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       # taz.de -- Groko ignoriert eigene Berater*innen: Kein gesundes Essen mit Hartz IV
       
       > Hartz IV reiche nicht aus für eine ausgewogene Ernährung, sagen
       > Berater*innen im Agrarministerium. Das Arbeitsministerium sieht das
       > anders.
       
   IMG Bild: Regelsätze zu gering: Für Lebensmittel und Getränke sind für Singles täglich rund 5 Euro vorgesehen
       
       Frankfurt am Main taz | Die Bundesregierung ignoriert den Hinweis der
       eigenen Berater*innen, dass gesunde Ernährung für Hartz-IV-Bezieher*innen
       nicht zu bezahlen ist. Das steht in der Antwort des SPD-geführten
       Bundesarbeitsministeriums auf eine kleine Anfrage des
       Grünen-Sozialpolitikers Sven Lehmann. Das Dokument liegt der taz exklusiv
       vor.
       
       Es geht dabei um eine Empfehlung des wissenschaftlichen Beirats des
       Landwirtschaftsministeriums. Dieser hatte im vergangenen Sommer ein
       Gutachten für eine „Politik für nachhaltigere Ernährung“ vorgelegt, in dem
       es eindringlich heißt: „Die derzeitige Grundsicherung reicht ohne weitere
       Unterstützungsressourcen nicht aus, um eine gesundheitsförderliche
       Ernährung zu realisieren.“
       
       Das Gremium attestierte sogar: „Auch in Deutschland gibt es armutsbedingte
       Mangelernährung und teils auch Hunger“. Folgerichtig seien „im Sinne einer
       den Nachhaltigkeitszielen verschriebenen Politik die Berechnungsgrundlagen
       und -methoden der Regelbedarfsermittlung zu überprüfen“.
       
       Die Bundesregierung scheint aber nicht daran interessiert zu sein, diesen
       Ratschlag umzusetzen. Sie schreibt in der Antwort auf Lehmanns Anfrage, man
       sehe keinen Überprüfungsbedarf. Die Aufgabe der Regelbedarfsermittlung sei
       auch im Bereich Ernährung, „dass existenzsichernde Leistungen beziehende
       Menschen so gestellt werden wie alle einkommensschwachen Haushalte“.
       
       Konkret bedeutet das: Gesunde Ernährung sicherzustellen sei gar nicht das
       Ziel. Die Regelsätze sollen nur die – sehr knappen Mittel – der untersten
       Einkommen widerspiegeln. Allerdings werden in der Grundsicherung noch
       einige Ausgabenposten herausgerechnet.
       
       ## 5,09 Euro täglich für Essen
       
       Für den Grünen-Politiker Lehmann ist die Antwort der Bundesregierung
       „ungeheuerlich“: „Es muss der Anspruch der Bundesregierung sein, dass alle
       Menschen finanziell so abgesichert sind, dass sie sich gesund ernähren
       können“, sagte er der taz. Die Regelbedarfsermittlung müsse entsprechend
       reformiert werden.
       
       Der Regelsatz liegt aktuell für Alleinstehende bei 446 Euro im Monat. Neben
       Erwerbslosen müssen auch Kinder, Menschen mit Behinderung oder altersarme
       Menschen ihr Leben von der Grundsicherung bestreiten. Für Lebensmittel und
       Getränke sind für Singles dabei aktuell rund 5,09 Euro täglich als
       Ausgabenposten vorgesehen. Für Kinder und Jugendliche sowie Menschen in
       Paarhaushalten liegt der Betrag noch niedriger.
       
       [1][Damit könne man sich nicht gesund ernähren], betont die
       Soziologieprofessorin Sabine Pfeiffer von der Universität
       Erlangen-Nürnberg, wo sie zu Ernährungsarmut in Deutschland forscht.
       „Gerade wenn Menschen länger im Bezug sind, stellt das für sie ein
       manifestes Problem dar. Eine kurze Zeit kann man mit so wenig Geld über die
       Runden kommen, aber umso länger man die Grundsicherung bezieht, desto
       weniger leicht lassen sich anfallende Posten ausgleichen.“
       
       Pfeiffer fordert entsprechend eine Erhöhung der Regelsätze. „Dass wir
       sagen, hier muss keine oder keiner verhungern, kann in einem Land wie
       Deutschland nicht der Maßstab sein.“ Ernährung sei kein Luxusthema, betont
       die Forscherin.
       
       Die SPD hat sich [2][der Regelsatzermittlung] in ihrem Wahlprogramm-Entwurf
       angenommen. Dort heißt es jedoch nur vage: „Die Kriterien zur
       Regelsatzermittlung werden wir weiterentwickeln und Betroffene und
       Sozialverbände miteinbeziehen.“
       
       Nach einer verbindlichen Aussage, ob das auch eine Erhöhung der Leistungen
       nach sich ziehen soll, sucht man jedoch vergeblich.
       
       7 Apr 2021
       
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