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       # taz.de -- Die Wahrheit: Spritzenphobie
       
       > Tagebuch einer Geimpften: Nach wochenlangen Bildern von nackten
       > Oberarmen, darf nun endlich der eigene zum Impfen hingehalten werden.
       
       Meine Heimat ist das katholische Rheinland, wo die Kindheit im Rhythmus der
       Kirchenjahre verrinnt. Vor Weihnachten fieberten wir der Ankunft des lieben
       Jesulein entgegen und bastelten schiefe Strohsterne, die Eiersuche an
       Ostern wurde in die Lücken zwischen Andachten und Hochämter gequetscht und
       im Mai zierte mein Zimmer ein Marienaltar, der, geschmückt mit bunten
       Lichterketten, Red-Light-Atmo aufkommen ließ. Über allem waberte Weihrauch,
       ständig fuhr irgendeiner gen Himmel, und während ich das wörtlich nahm und
       in meiner Vorstellung Christus oder Maria im roten Alfa Spider steil hinauf
       in die Atmosphäre röhrten, lief ich mir auf Erden in endlosen
       Prozessionen die Füße platt.
       
       Neben dem Kirchenkalender gab es noch einen anderen, den gefürchteten
       Kinderarztkalender mit den darin vermerkten Impfterminen. Der gute Doktor
       Joosten führte in seiner Praxis auf der anderen Rheinseite eine strenge
       Patientenakte über meine Immunisierung gegen Diphtherie, Tetanus, Polio und
       was ein Kind der Sechziger sonst so alles hätte dahinraffen können. Sobald
       eine Auffrischung fällig war, wurde ich mit falschen Ausflugsversprechen
       ins Auto gelockt, aber spätestens auf der Fähre erkannte ich den Verrat,
       und wäre ich nicht jedes Mal rechtzeitig eingefangen worden, hätte ich mich
       auf der Flucht in die Fluten gestürzt.
       
       Ich leide unter einer Spritzenphobie. Sie trifft zu mehr als neunzig
       Prozent Männer, die ja, wie man weiß, sowieso Weicheier sind; ich bin die
       weibliche Ausnahme. Wir bekommen schweißnasse Hände, der Puls rast, es
       folgen Hyperventilation und Ohnmacht, bei all dem beschäftigen wir eine
       Armee von Sprechstundenhilfen. Ja, vielen Dank, liebe Leser, behalten Sie
       Ihre Ratschläge, das Einzige, was zuverlässig hilft, ist Drogenrausch oder
       am besten gleich Vollnarkose, begleitet von gutem Zureden: „Ist ja alles
       gut, Schätzelein, heile, heile Gänschen“, die Skala der Würdelosigkeit ist
       nach unten offen.
       
       Glauben Sie mir, das Lachen würde Ihnen im Hals stecken bleiben, wenn Sie
       wüssten, was ich seit Monaten durchmache! Keine zehn Minuten vergehen, ohne
       dass Männer in Feinrippunterhemden auf Bildschirmen erscheinen,
       während sich in Großaufnahme Nadeln in nackte, faltige Oberarme bohren! Ich
       bin ein Wrack.
       
       Angesichts der Dauerkrise entschied ich mich zur Traumabewältigung im Auge
       des Hurrikans. Nach geduldigem Ausharren in der Berliner Senats-Hotline
       sitze ich am Ostermontag umgeben von Tausenden Spritzen in einer Impfkabine
       am Flughafen Tempelhof – draußen vor dem Zentrum Hagel, drinnen herrscht
       gedämpfte Euphorie. Mitarbeiter lächeln: „Guten Tag, ich bin Ihre
       Impfärztin.“ Liebe wabert durch Hangar 4 wie auf der Loveparade, benebelt
       die Sinne und ersetzt jede Narkose. Dr. Joosten wäre stolz auf mich! Am
       Ausgang verteilt die Security Schokohasen.
       
       Sie sehen meinen nackten Oberarm dann demnächst auf Ihrem Bildschirm.
       
       8 Apr 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pia Frankenberg
       
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