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       # taz.de -- Wirbel um Wagenknechts neues Buch: Wahlkampf gegen die eigene Partei
       
       > Eigentlich wollte sich Sahra Wagenknecht zur Linken-Spitzenkandidatin in
       > NRW wählen lassen. Doch nun wurde der Inhalt ihres neuen Buchs bekannt.
       
   IMG Bild: 2015 bis 2019 war Sahra Wagenknecht zusammen mit Dietmar Bartsch Linke-Fraktionsvorsitzende
       
       Berlin taz | Es ist ein Sprengsatz, der eigentlich erst unmittelbar nach
       ihrer Kür zur [1][Spitzenkandidatin der nordrhein-westfälischen
       Linkspartei] zünden sollte. Doch nun kursieren bereits vor der digitalen
       Aufstellungsversammlung am kommenden Wochenende die ersten Exemplare von
       Sahra Wagenknechts neuem Buch „Die Selbstgerechten“ – und sorgen für
       mächtig Aufregung in den eigenen Reihen. Denn die frühere
       Bundestagsfraktionsvorsitzende hat pünktlich zum Bundestagswahlkampf eine
       Generalabrechnung mit der Linken im Allgemeinen und ihrer Partei im
       Besonderen verfasst.
       
       345 Seiten umfasst das Werk, das offiziell erst am nächsten Mittwoch
       erscheint. Bis dahin sollte nach dem Willen des Campus Verlags weder aus
       dem Buch zitiert noch dessen Inhalt referiert werden. Doch diese Sperrfrist
       ist inzwischen Makulatur. Die ersten Buchläden haben es bereits vorzeitig
       auf ihre Ladentheke gelegt. Auch die taz ist so an ein Exemplar gekommen.
       
       „Wer das Buch von Sahra Wagenknecht liest, kann nur zu einem Schluss
       kommen: Sie befindet sich in einem regelrechten Feldzug gegen die eigene
       Partei“, sagt der Oberhausener Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Niema
       Movassat der taz. Es sei für ihn „unergründlich, wie jemand, der Teile
       unserer Wählerschaft und die Programmatik der Partei offensichtlich
       verachtet, Spitzenkandidatin in NRW werden will.“
       
       Der Grund für Movassats Empörung: Mit scharfen Worten attackiert
       Wagenknecht in ihrem Buch jegliche emanzipatorische Bewegungen, denen sich
       die Linkspartei eigentlich verbunden fühlt. Von den Fridays for Future über
       Black Lives Matter, dem Seebrücke-Bündnis bis hin zu den
       „Unteilbar“-Demonstrationen – für die einstige linke Frontfrau alles
       unerquickliche Veranstaltungen einer degenerierten „Lifestyle-Linken“, die
       den Bezug zu den wahren gesellschaftlichen Problemen verloren habe.
       
       ## „Liebeserklärung an die rechten Kräfte“
       
       Größere Sympathien hegt Wagenknecht hingegen für die Gelbwesten-Proteste in
       Frankreich. Da die Gelbwesten „die Vorgaben des linksliberalen Weltbildes
       beherzt ignorierten, wurden sie insbesondere von deutschen Lifestyle-Linken
       sofort rechtsradikaler Sympathien verdächtigt“, ärgert sich Wagenknecht –
       und zitiert als Beleg ihren [2][Fraktionskollegen Bernd Riexinger]. Ohne
       ihn allerdings namentlich zu erwähnen: Für Wagenknecht ist er nur „der
       damalige Vorsitzende einer deutschen linken Partei, dessen Name heute zu
       Recht vergessen ist“.
       
       Auf Unverständnis stößt bei Wagenknecht auch der Umgang mit den „großen
       Anti-Corona-Demonstrationen“, bei denen der Vorstand der Linkspartei „nur
       ‚Verschwörungstheoretiker‘ und ‚Nazis‘ auf den Straßen“ gesehen habe,
       „obwohl jeder, der Bilder dieser Kundgebungen unvoreingenommen betrachtet
       hat, die große Zahl relativ unpolitischer, aber eben unzufriedener
       Normalbürger kaum übersehen konnte“.
       
       Das Buch sei eine „Abschiedserklärung“ und „eine einzige Liebeserklärung an
       die rechten Kräfte im Land“, kommentiert
       Linkspartei-Bundesvorstandsmitglied Thies Gleiss gegenüber der taz.
       „Vermutlich möchte sie gerne noch einmal in den Bundestag gewählt werden,
       um dann mit ihren Getreuen etwas Neues aufzubauen“, mutmaßt er.
       
       Tatsächlich liest sich die Schrift über weite Strecken wie eine Kampfansage
       an die eigene Partei. Die werde – ebenso wie die SPD – dominiert von jener
       bereits erwähnten „Lifestyle-Linken“, die sich auf den „Irrweg des
       Linksliberalismus“ begeben habe. Wagenknechts Kernaussage: „Vor allem
       Arbeiter und Geringverdiener haben keine politische Vertretung mehr, seit
       die linken Parteien die Seiten gewechselt haben.“ Starker Tobak.
       
       ## „Spuk um Diversity und Frauenquoten“
       
       Wagenknecht kritisiert, die von ihr angeprangerte „Lifestyle-Linke“ würde
       sich „auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten“ richten, „die
       ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich
       von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch
       ableiten, ein Opfer zu sein“. Sexuelle Orientierung, Hautfarbe oder Ethnie
       würden dabei immer funktionieren. Auch religiöse Überzeugungen, soweit sie
       nur von einer Minderheit geteilt werden, könnten „einen zum Opfer und damit
       unangreifbar machen“.
       
       Wortreich geißelt Wagenknecht den aus ihrer Sicht „Spuk um Diversity und
       Frauenquoten“. Beim „Rummel um Diversity und Quoten“ gehe es „immer nur
       darum, bereits privilegierten Frauen und Minderheiten bessere Chancen im
       Kampf um gut dotierte Stellen zu verschaffen“.
       
       So müsse jede Partei, jede Zeitungsredaktion und jede Rundfunkanstalt heute
       darauf achten, dass ihr Personal in exponierten Positionen nicht
       ausschließlich Müller, Maier oder Schuster heiße, sondern ein hinreichender
       Anteil ausländischer Namen für Weltoffenheit und Multikulturalität bürge.
       „Wer das nicht beachtet, gilt als muffig und reaktionär“, beklagt sich
       Wagenknecht.
       
       Kein Verständnis hat sie dafür, dass die „Lifestyle-Linke“ daran mitwirke,
       „nationale Identitäten und die Sehnsucht nach Stabilität, Vertrautheit und
       Zusammenhalt moralisch zu diskreditieren“. Nicht mehr geschätzt würden „die
       traditionellen Gemeinschaftswerte“, obwohl diese „weder rückwärtsgewandt
       noch überholt“ seien.
       
       ## Lob ausgerechnet für die PiS
       
       Ein Bekenntnis zum Grundgesetz als gemeinsames Wertgerüst reiche demnach
       nicht aus: „Wenn man den Begriff Leitkultur sinnvoll definieren will,
       sollte man darunter die durch kulturelle Überlieferung, Geschichte und
       nationale Erzählungen begründeten spezifischen Werte und typischen
       Verhaltensmuster innerhalb einer Nation verstehen, die Teil ihrer
       gemeinsamen Identität sind und auf denen ihr Zusammengehörigkeitsgefühl
       beruht.“
       
       Während sie an ihrer eigenen Partei kein gutes Haar lässt, bescheinigt sie
       ausgerechnet der nationalistisch und klerikal-reaktionär ausgerichteten
       polnischen Regierungspartei PiS, diese stehe „für eine couragierte
       Sozialpolitik, wie man sie sich von allen sozialdemokratischen und linken
       Parteien in Westeuropa wünschen würde“.
       
       Dass Landwirte, Fabrikarbeiter und Rentner, die von dieser Sozialpolitik
       profitiert hätten, „diese Seite der Politik letztlich wichtiger fanden als
       die Frage der Gewaltenteilung oder der Pressefreiheit und der PiS daher
       2019 zu einem erneuten Wahlsieg verhalfen, ist nicht verwunderlich und ganz
       sicher kein Beleg für deren rechte Gesinnung“.
       
       Der Kreissprecher der Linkspartei in Köln, Hans Günter Bell, hat dafür nur
       noch ein Kopfschütteln übrig. „Nach der Lektüre des Buches ist klar, dass
       sich die Partei und die ehemalige Vorsitzende der Bundestagsfraktion
       einander entfremdet haben“, sagt Bell der taz. „Warum Sahra Wagenknecht
       dennoch für diese Partei erneut für den Bundestag kandidieren will, ist mir
       ein Rätsel.“ Es wäre „ein großer Fehler“, sie im größten Landesverband der
       Linkspartei auf den Listenplatz 1 für den Bundestag zu wählen.
       
       Wagenknecht verunglimpfe die eigene Mitgliedschaft, findet Daniel Kerekeš,
       Kreissprecher der Linkspartei in Essen. Die Diskussionen über ihr Buch
       könnten einen „irreparablen Imageschaden für die Partei zur Folge haben“.
       Kerekeš hält Wagenknecht als NRW-Spitzenkandidatin für „nicht tragbar“.
       
       Ob das auch die Delegierten am Wochenende so sehen? Nach wie vor hat
       Wagenknecht Unterstützer:innen im NRW-Landesverband. Trotz alledem.
       
       8 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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