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       # taz.de -- Grüne stellen Wahlprogramm vor: Auf tönernen Füßen
       
       > Die Grünen stellen den Entwurf für ihr Wahlprogramm vor. Im Zentrum
       > stehen frische Milliarden für mehr Klimaschutz. Ist das realistisch?
       
   IMG Bild: Hier kommt das Grundsatzprogramm: Parteivorsitzende Robert Habeck und Annalena Baerbock
       
       Berlin taz | Die Grünen planen im Falle einer Regierungsbeteiligung eine
       milliardenschwere Modernisierung des Landes. „Wir starten in der nächsten
       Legislaturperiode eine Investitionsoffensive“, verspricht die Partei in
       einem Entwurf für das Wahlprogramm, den die Grünen-Spitze am Freitag
       vorstellte. Demnach sollen pro Jahr 50 Milliarden Euro zusätzlich in
       klimaneutrale Infrastruktur, etwa in Ladesäulen für E-Autos, in den Ausbau
       der Bahn, in schnelles Internet oder in Spitzenforschung fließen.
       
       Parteichef Robert Habeck sagte, die Regierungsparteien seien „erlahmt und
       müde“. Deutschland wirke saturiert und wandlungsunlustig. Die Grünen legten
       ein ambitioniertes, aber an der Realität orientiertes Programm vor, das
       Wohlstand und Freiheit sichere. Die Co-Vorsitzende Annalena Baerbock sagte,
       der Plan unterstreiche „den umfassenden Führungsanspruch der Grünen für die
       Breite der Gesellschaft“.
       
       Mit ihrer Investitionsoffensive verdoppelten die Grünen das, was die
       derzeitige Regierung ausgebe, betonte Habeck weiter. So soll Deutschland im
       Vergleich der Industrieländer „vom Nachzügler zum Spitzenreiter“ werden,
       wie es im Programmentwurf heißt. Um ihr Milliardenprogramm zu finanzieren,
       schlagen die Grünen eine Reform der im Grundgesetz verankerten
       Schuldenbremse vor. Bei Investitionen wollen sie eine begrenzte
       Kreditaufnahme erlauben.
       
       In der Partei wird wegen des Fokus auf Investitionen diskutiert, dass man
       in einer künftigen Regierung das entsprechende Ressort beanspruchen müsse.
       „Wir Grüne sollten den oder die nächste FinanzministerIn stellen“, sagte
       zum Beispiel der Europaabgeordnete Rasmus Andresen. [1][Führende Grüne
       hatten sich schon vor Monaten gegenüber der taz ähnlich geäußert.]
       
       ## Bekenntnis zur Vermögensteuer
       
       Auch in der Steuerpolitik werden die Grünen konkreter als bisher. [2][Lange
       blieben Habeck und Baerbock bei der Frage nach einer Vermögensteuer vage.]
       Im Programmentwurf bekennen sie sich nun klar zu dem Konzept: Darin fordern
       die Grünen eine Vermögensteuer von 1 Prozent pro Jahr. Vorgesehen wären
       große Freibeträge von 2 Millionen Euro pro Jahr und Person,
       Betriebsvermögen würden begünstigt. Die SPD vertritt ein ähnliches Konzept.
       
       Das Finanzkonzept der Grünen steht allerdings bisher auf tönernen Füßen.
       Für eine Reform der Schuldenbremse wäre eine Verfassungsänderung nötig,
       also eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag. Diese zeichnet sich bisher
       nicht ab, weil etwa Union und FDP strikt an der Schuldenbremse festhalten
       wollen. Aber ein bisschen unrealistischer Optimismus ist in einem
       Wahlprogramm durchaus erlaubt, wenn nicht notwendig.
       
       Bei der Überschrift des Programmentwurfs rätselt man ein bisschen, ob sie
       nun etwas doof oder genial ist. „Deutschland. Alles ist drin“, das würde
       sich auch gut als Werbespruch für Mediamarkt eignen. Andererseits wollen
       die Grünen ja so massentauglich wie ein Elektronik-Discounter sein,
       vielleicht helfen solche Plattitüden dabei. Und schließlich meint sich die
       Grünen-Spitze wohl auch ein bisschen selbst. Alles ist drin, das verspricht
       sie seit Monaten – auch das Kanzleramt.
       
       Durch die 136 Seiten des Programmentwurfs ziehen sich mehrere inhaltliche
       rote Fäden. Die Grünen denken überall, wo es möglich ist, Europa mit.
       Außerdem ist Klimaschutz das Querschnittsthema, das in allen Bereichen eine
       Rolle spielt. Gerade letzteres erleichtert Koalitionen nicht. Für die CDU
       stehen ein paar schwer zu schluckende Brocken in dem Text.
       
       ## Giegold: „Kein schwarz-grüner Kniefall“
       
       „Dieses Programm ist der mutigste Entwurf seit Langem“, sagte der
       Europaabgeordnete Sven Giegold. „Der Anspruch, die Wirtschaft ökologisch
       und sozial zu verändern, zieht sich durch den Text. Ein schwarz-grüner
       Kniefall sieht anders aus.“
       
       Bisher will die Bundesregierung den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2030 um
       55 Prozent verringern. Die Grünen fordern angesichts der Zuspitzung der
       Klimakrise eine schnellere Verringerung. Sie versprechen, das „ungenügende
       Klimaschutzgesetz“ und den Klimaschutzplan zu überarbeiten. Im Einklang mit
       dem höheren europäischen Klimaziel solle der CO2-Ausstoß bis 2030 um 70
       Prozent reduziert werden.
       
       In den einzelnen Schritten würden die Grünen deutlich radikaler zu Werke
       gehen, als CDU, CSU oder auch SPD. Sie fordern eine schnellere Erhöhung des
       CO2-Preises, der klimaneutrales Wirtschaften fördert. „Wir wollen die
       Erhöhung des CO2-Preises auf 60 Euro auf das Jahr 2023 vorziehen“, heißt es
       im Programmentwurf. Und die Vorgaben des Pariser Klimaschutzvertrages
       sollten im Grundgesetz verankert, eine CO2-Bremse eingeführt werden. Durch
       jene würden alle Prozesse einer Regierung auf ihre Klimaverträglichkeit
       geprüft.
       
       Auch bekannte Grünen-Klassiker finden sich im Programmentwurf. So sollen
       zum Beispiel die Autokonzerne ab 2030 nur noch emissionsfreie Neuwagen
       herstellen dürfen – diese Forderung ist mehrere Jahre alt. Sie wird durch
       die Realität überholt, da Konzerne wie VW längst auf den Elektromotor
       setzen. Im sozialen Bereich gehören die Kindergrundsicherung, die
       Kinderarmut bekämpfen soll, und eine Bürgerversicherung seit Langem zum
       grünen Repertoire.
       
       ## Weg vom Verbot, hin zum guten Leben
       
       Die Parteispitze bemüht sich erkennbar, den von ihr angestrebten Wandel
       positiv aufzuladen – über der Einleitung steht das freundliche Wort
       „Einladung“. Weg vom Verbotsimage, hin zum guten Leben. „Die Zukunft wird
       damit leiser, sauberer und gesünder“, heißt es später im Entwurf. „Weniger
       Autos in der Stadt bedeuten mehr Platz für uns Menschen. Leisere Straßen
       und saubere Luft dienen besonders jenen, die sich nicht die Villa am
       ruhigen Stadtrand leisten können.“ Von einem Einfamilienhaus-Verbot, das
       CDU, CSU und Bild-Zeitung herbeiredeten, findet sich in dem Text keine
       Silbe.
       
       Ebenfalls viel Raum nimmt der ökologische Umbau der Wirtschaft ein: Man
       könne es in den nächsten Jahren schaffen, „dass die Industrie in eine
       klimaneutrale Produktion einsteigt“, sagte Katharina Dröge, die
       wirtschaftspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion. „Und wir wollen
       eine Kreislaufwirtschaft schaffen, die auf Reparieren und Recyclen setzt,
       statt wertvolle Ressourcen als Müll zu verschwenden.“
       
       Für beide Ziele gibt es im Programmentwurf viele Ideen. Die Grünen wollen
       etwa regionale Transformationsfonds auflegen. Jener würde Unternehmen
       fördern, die in der Region verankert sind und den ökologischen
       Strukturwandel aus eigener Kraft nicht bewältigen können. Die
       energieintensiven Industrien Stahl, Zement und Chemie seien für 15 Prozent
       des CO2-Ausstoßes verantwortlich, gleichzeitig böten sie hunderttausende
       gute Arbeitsplätze. Die Grünen wollen die Transformation fördern, indem sie
       etwa Quoten für CO2-neutrale Grundstoffe vorschreiben.
       
       Eine Kreislaufwirtschaft wollen die Grünen mit stärkeren
       Herstellerverpflichtungen, ambitionierten Recyclingquoten und
       Förderprogrammen erreichen. Bis 2030 sollten Güter, die auf den Markt
       kommen, mit einem digitalen Produktpass ausgestattet sein, der
       Informationen über Design, Reparierbarkeit und Materialien enthält, heißt
       es im Programmentwurf.
       
       ## Der Hauch einer Bedingung
       
       Und mit wem wollen die Grünen das umsetzen? Egal ob Schwarz-Grün, Ampel
       oder Linksbündnis: Sie halten sich alle Optionen offen, wollen maximal
       flexibel bleiben. Habeck definierte in der Pressekonferenz die wohl einzige
       harte Bedingung für eine Koalition. Eine Regierung, die nicht auf den Pfad
       des Pariser Klimaschutzabkommens komme, „braucht die Grünen nicht“.
       
       Aber auch das wäre nach einer Koalitionsverhandlung eine Frage der Deutung.
       Fridays for Future werfen den Grünen vor, dass ihr Programm nicht für das
       1,5-Grad-Ziel ausreiche – jene behaupten fleißig das Gegenteil.
       
       19 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gruene-und-Investitionen/!5728000
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Schulte
       
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