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       # taz.de -- Sachbuch „Kapital und Ressentiment“: Macht der Plattformen
       
       > Ressentiments werden von finanzökonomischen Logiken produziert und
       > verstärkt, wie das neue Buch von Joseph Vogl „Kapital und Ressentiment“
       > zeigt.
       
   IMG Bild: Proteste gegen Uber in Barcelona
       
       Doomscrolling. Den Daumen wie im Rausch durch den Social-Media-Feed auf der
       Suche nach schlechten Nachrichten zu jagen ist seit der Covid-Pandemie ein
       beliebter Sport. Er verspricht, den Körper immun zu machen gegen die fiesen
       Ohnmachtsgefühle, indem er die großen Krisen auf den kleinen Bildschirm
       holt und scheinbar unter Kontrolle bringt.
       
       Bei einer in Echtzeit ablaufenden Katastrophe, über die es kaum Wissen
       gibt, vermitteln möglichst viele Informationen irgendwie das Gefühl von
       Sicherheit – und vom unmittelbaren Zugang zur Macht, der nur einen
       Mausklick entfernt ist.
       
       Dass ein längerer Aufenthalt in dieser toxischen Umwelt nicht gesund ist,
       ist ein Gemeinplatz – der Philosoph und Aktivist Franco „Bifo“ Berardi
       schrieb in seinem Buch „The Second Coming“ von 2019, dass Facebook die
       automatisierte Simulation sozialer Beziehungen und Google die
       automatisierte Simulation des Denkens vorantreibe.
       
       Dass Menschen dabei als „Produser“ agieren, also „immateriell“ arbeiten und
       unbewusst Mehrwert produzieren, weil Google oder Facebook von
       Feedback-Loops zwischen Netzwerk und Nutzer*innen profitieren – und dass
       diese Nutzer*innen durch den imaginären Wettbewerb mit anderen stets
       glauben, nicht talentiert, glücklich oder wohlhabend genug zu sein, ebenso.
       Dass all das mit dem internationalen Finanzkapitalismus zusammenhängt,
       womöglich weniger.
       
       ## Unsichtbare Spekulationen auf dem Konto
       
       Die oft geahnte, aber nie zu Ende gedachte diskursive Leerstelle füllt
       [1][der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl] mit seinem neuen Buch „Kapital
       und Ressentiment“. Er untersucht das Wechselverhältnis zwischen
       Wirtschaftsprozessen und Affektökonomien, das sich zwischen
       Informationstechnologie und Finanzmarkt herausgebildet hat – und datiert
       ihren Ausgangspunkt auf 1973, als das Finanzwesen mit dem Ende des
       Goldstandards als System fester Wechselkurse dereguliert wurde.
       
       Das Geld auf dem Konto war von da an nicht mehr gedeckt von anfassbarem
       Gold, sondern von unsichtbaren Spekulationen. Seitdem Preise auf Basis
       aller verfügbarer Informationen über Vermögenswerte bestimmt werden, wird
       die Weltwirtschaft nicht mehr von einem Währungs-, sondern einem
       Informationsstandard dominiert. Informationen über Geld wurden wichtiger
       als Geld selbst. Vorangetrieben wurde dieser Prozess von der Freigabe des
       Internets für Finanzgeschäfte 1993.
       
       Diese ungefähr zwei Drittel des Buchs füllende und etwas langatmige
       historische Herleitung verschaltet Vogl, der mit Büchern wie „Das Gespenst
       des Kapitals“ (2010) oder „Der Souveränitätseffekt“ (2015) zum
       einflussreichen Kapitalismuskritiker wurde, mit kulturwissenschaftlichen
       Überlegungen.
       
       ## Macht der Internetplattformen
       
       Seine Grundthese: Die Allianz von Finanzwirtschaft und
       Kommunikationstechnologien legte den Grundstein für die Macht der
       Internetplattformen wie Uber, Facebook oder AirBnB. Ihre Geschäftsmodelle
       basieren darauf, nichts selbst zu produzieren, sondern nur zu vermitteln,
       und zwar zwischen Unternehmen, Werbetreibenden und Nutzer*innen, deren
       Interaktionen zu Daten gebündelt und profitabel weiterverkauft werden.
       
       Laut Vogl, der im gleichnamigen Kapitel weitgehend [2][Nick Srniceks Buch
       „Platform Capitalism“] paraphrasiert, genießen Plattformen inzwischen eine
       staatsartige Souveränität. Sie bilden nicht einfach nur die Logik des
       Marktes ab, indem dort etwa das Konkurrenzprinzip auf soziale Sphären
       übertragen wird, sie sind eigene Märkte. Gehandelt werden statt Devisen
       Meinungen, also unbegründete Behauptungen – strukturiert nach
       finanzökonomischen Bewertungslogiken. Ein perfekter Nährboden für das, was
       Vogl „strukturellen Populismus“ nennt und was eine Aufwertung von
       Information gegenüber Wissen bewirkt.
       
       Erstere handele immer nur vom Was, während zweiteres stets auch nach dem
       Warum verlangt. Ein solcher Informationsmarkt führe zu einer Entkopplung
       der Welt der Ereignisse von der Welt der Gründe. Kurzum: scheißegal, ob
       eine Information stimmt, Hauptsache, sie kursiert.
       
       ## Fake News sind bekannteste Kollateralschäden
       
       Da Suchmaschinen-Ergebnisse keine neutrale Abbildung aller verfügbarer
       Informationen, sondern nach Marketingstrategien und Relevanzkriterien
       geordnet sind, hat die Meinung, Bill Gates habe Corona erfunden, einen viel
       höheren Nachrichtenwert als eine wahre. Fake News wären hier die
       bekanntesten Kollateralschäden einer Affektökonomie, die Vogl zufolge vom
       Ressentiment bewirtschaftet wird, also jener aus einer diffusen Ohmacht und
       toxischen Empfindungen geborenen Denkweise, die sich wunderbar eignet,
       Konkurrenzdenken, Bewertungslust und „ballistische“, also auf Verletzung
       gerichtete Kommunikation“ zu kanalisieren.
       
       Mit dem „Communications Decency Act“ von 1996 durch den US-Kongress wurde
       das gesetztlich legitimiert. Hiernach sind Internetanbieter nicht als
       Publizisten, sondern als neutrale Vermittler definiert und somit von der
       Verantwortung für Inhalte befreit. Dass sich Facebook hier quasi zwischen
       Staat und Bürger*in schiebt, ist hochgefährlich für eine Gesellschaft.
       
       Wenn Vogl zum Schluss nicht weniger als „eine neue Vorkriegszeit“
       heraufziehen sieht, möchte man ihm kaum widersprechen. Doch erinnert der
       Jumpcut zwischen Facebook-Nutzung und Apokalpyse ein bisschen zu sehr an
       Doomscrolling.
       
       Vogl jedoch, wie der Rezensent in der Zeit in standesgemäß ballistischer
       Urteilsmanier es tut, vorzuwerfen, einer „sehr deutschen Poetik der
       Zwangsläufigkeit“ zu folgen, verharmlost die Analyse. Als Fazit, das ein
       bisschen mehr Hoffnung macht, braucht es ja nicht den erwartbaren Ruf nach
       autonomen Plattformen, mit dem Berardi oder Srnicek ihre Kritik am
       kognitiven Kapitalismus oft verwässern.
       
       ## Plattformen besteuern
       
       Stattdessen liefert Vogl selbst eine Alternative, wenn er in aktuellen
       Podcasts auf die Frage, was sich gegen die neue Macht politisch unternehmen
       lässt, vorschlägt, Plattformen zum Beispiel angemessen zu besteuern – und
       damit in einen gesellschaftlichen Verantwortungszusammenhang zu drängen.
       
       Vielleicht hilft es auch, mal daran zu erinnern, dass das Internet nicht
       die Welt und die datenhungrige Avatar*in nicht das Ich ist – kurzum: dass
       sich die digitale Verhaltensarchitektur mit ihrer Seifenoper aus Meinungen
       einfach verlassen lässt – solange der Daumen den Aus-Knopf findet.
       
       4 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Joseph-Vogl-ueber-sein-neues-Buch/!5017253
   DIR [2] /Buch-ueber-digitale-Wirtschaft/!5385991
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Philipp Rhensius
       
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