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       # taz.de -- Tagebücher von Chips Channon: Blick in den Abgrund
       
       > Chips Channon hofierte Mussolini, Hitler wie auch Hohenzollern, britische
       > Royals und Chamberlain. Die Tagebücher erscheinen nun erstmals
       > unzensiert.
       
   IMG Bild: Die Hochzeit von „Chips“ Channon und Lady Guinness in Westminster im Juli 1933
       
       Der Politiker Henry „Chips“ Channon schlief mit allem, was Rang und Namen
       hatte. Es half ihm, in die höchsten Kreise Großbritanniens aufzusteigen und
       gleichzeitig seine amerikanische Herkunft zu exorzieren.
       
       Channon, 1897 in Chicago geboren, verachtete die USA ebenso inbrünstig wie
       seine reichen Eltern. In seinen Augen bestand die einzige
       Daseinsberechtigung seines Vaters darin, ihm Schecks nach London zu
       schicken.
       
       Später übertrug Channon diese anspruchsvolle Aufgabe an seine Ehefrau Lady
       Honor Guinness. Honor und die Guinness-Alkoholdynastie verschafften ihm
       auch einen sicheren konservativen Wahlkreis. 23 Jahre lang, bis zu seinem
       Tod 1958, vertrat Chips Channon Southend-on-Sea im britischen Parlament.
       
       Niemand würde sich heute noch an Chips und seine unbedeutende Politkarriere
       erinnern, wenn er nicht Tagebücher verfasst hätte. 1967 wurden sie in einer
       stark zensierten Version erstmals veröffentlicht. Die Streichungen waren
       bitter nötig, denn damals lebten noch viele von Channons Zeitgenossen, die
       das Buch vom Markt geklagt hätten.
       
       ## Endlich unzensiert
       
       Mittlerweile ist derartiges nicht mehr zu befürchten. Es ist dem Historiker
       und Journalisten Simon Heffer zu verdanken, dass wir jetzt Band eins der
       unzensierten Tagebücher lesen können. Er behandelt den Zeitraum von 1918
       bis 1938 und verkauft sich trotz geschlossener Buchläden in Großbritannien
       blendend.
       
       In seltener Übereinstimmung feiert sowohl das linke wie das konservative
       Feuilleton ein Tagebuch, in dem es seitenlang um Juwelen, Landhäuser und
       Bälle geht. Die Frage ist, warum? Ist es wichtig zu wissen, dass Lady Astor
       bei ihren Empfängen nicht genug Champagner ausschenkte? Vielleicht sagt das
       viel über ihren Charakter aus, vielleicht lag es aber auch am Butler, der
       Flaschen abzweigte.
       
       Doch wenn man die Champagnerflaschen überspringt, bietet Heffers Edition,
       inklusive seiner detaillierten Fußnoten, etwas Außergewöhnliches. Wir
       bekommen einen ungefilterten Blick auf die britische Politik der
       Zwischenkriegszeit. Es ist der Blick in einen Abgrund. Channons engste
       Freunde waren Beschwichtigungspolitiker, die unter Bolschewismusängsten
       litten und sich für die Hofierung Mussolinis und Hitlers entschieden.
       
       Auch Chips fühlte sich zu den Diktatoren hingezogen und glaubte, Italien
       und Deutschland gut zu kennen. Sein Tagebuch bietet daher mehrere
       interessante Passagen für deutsche Leser. Im Jahr 1928 reiste Channon
       erstmals mit seinem Lebensgefährten, dem Höfling George Gage, nach Berlin:
       „Es gibt 120 Kaffees und Bars in der Stadt nur für Männer. In Deutschland
       ist Homosexualität die große Mode … ich hatte plötzlich Lust, mit einer
       Frau zu schlafen.“
       
       ## Hochpatriotisch und stimulierend
       
       Als überzeugter Monarchist und Antisemit fand Channon die Weimarer
       Gesellschaft stillos – voller neureicher Juden und dumpfer Mittelständler.
       Sein pessimistischer Ton änderte sich erst nach der Machtergreifung der
       Nationalsozialisten, die er als „hochpatriotisch, vital, neu und unendlich
       stimulierend“ empfand.
       
       Sein entscheidendes Erweckungserlebnis wurden die Olympischen Spiele 1936,
       bei denen er Hitler „erlebte“: „Man fühlte sich wie in der Gegenwart eines
       Halbgottes. Ich war aufgeregter als bei meinem Treffen mit Mussolini 1926
       in Perugia, oder als der Papst mich 1920 oder 21 segnete.“
       
       Beim anschließenden Staatsbankett in der Oper lernte Channon Göring kennen
       („ein liebenswerter Mann“) und erfuhr, dass ausgerechnet „der dröge Philipp
       von Hessen … die Rolle des Mittlers zwischen Mussolini und Hitler spielt …
       die faschistische Kette, die uns vor dem Bolschewismus bewahrt“.
       
       Channon war auch mit zwei Söhnen des Ex-Kronprinzen Wilhelm befreundet und
       lernte während der Olympiade deren Mutter Cecilie kennen. Das gemeinsame
       Mittagessen verlief gut, auch wenn der Ästhet Channon dabei die
       geschmacklose Umgebung ausblenden musste: „Fritzi (Friedrich von Preußen)
       führte [1][uns nach Cecilienhof, das die kaiserliche Familie] für englisch
       hält. Es ist ein scheußliches Haus … falscher Tudorstil, kurz vor dem Krieg
       erbaut. Dass man auf einen See schauen kann, ist eine Erleichterung. Die
       Inneneinrichtung ist royal: plüschig, palmig … und keine Ornamente außer
       Fotos von toten Monarchen und ein paar Familienporträts, alle hässlich.“
       
       ## Hitlers Flirt mit dem Adel
       
       Besseren Dekor fand Channon hingegen bei Ribbentrops Olympiaparty. Hier
       lernte er den Rest der [2][Hohenzollernfamilie kennen, inklusive der
       Kaisertochter Viktoria Luise], verheiratete Prinzessin von Hannover. Er
       erfuhr auch, dass Hitler zwar mit dem Haus Hannover „flirtet“, aber nicht
       taub gegenüber den „Rechten der Hohenzollern“ sei.
       
       Channon fand dies ausgesprochen ermutigend. Er hoffte, sein Freund Fritzi
       Preußen würde am Ende das Thronrennen machen: „Ich riet ihm, mithilfe der
       englischen Regierung Einfluss auf die deutsche zu nehmen … und seinen
       Militärdienst zu absolvieren. Er sagte mir, sein Großvater, der alte Kaiser
       in Doorn, habe ihm denselben Rat gegeben.“
       
       Seinen Olympiabesuch rundete Channon mit einem Ausflug in ein
       „Arbeitslager“ ab: „Wir hatten solche Schauergeschichten über diese Lager
       gehört, aber tatsächlich waren sie sauber, und die Jungen, alle um die 18,
       sehen aus wie ganz normale deutsche Bauern, gesund und sonnengebräunt. Man
       bringt ihnen militärischen Drill bei, Gärtnerei etc., etc. um ihre
       Gesundheit zu stärken … England könnte etwas davon lernen.“
       
       Die potemkinsche Berlinreise spornte Channon an. Er echauffierte sich nun
       seitenlang über seine konservativen Gegenspieler Churchill und Duff Cooper,
       die vor dem NS-Regime warnten. Channon hingegen hoffte auf den zukünftigen
       König Edward VIII. Edward galt als nazifreundlich und war „mit seinem hohen
       Stimmchen“ häufiger Gast bei Channons opulenten Dinnerpartys. Auch Edwards
       Geliebte Wallis Simpson wurde eine enge Freundin.
       
       ## Stinkfaule Queen Mum
       
       Zwar war sie nicht schön („sie sieht aus wie eine Maus mit Muttermal“),
       aber sehr viel intelligenter als die „stinkfaule“ Herzogin von York, die
       spätere Queen Mum. Die Abdankung Edwards wurde für Channon folglich zur
       Tortur. Er erlebte alles hautnah mit, und sein Tagebuch bietet neue
       Einblicke in die komplexen Intrigenkonstellationen.
       
       Kurz darauf gab es jedoch wieder Grund zur Freude, denn sein anderer Held –
       Neville Chamberlain – wurde Premierminister. Beschwichtigungspolitiker
       hatten nun die Oberhand und einer davon war Chips angeheirateter Onkel Lord
       Halifax. Halifax traf den „Führer“ im Jahr 1937 und würde nach dem Krieg
       kolportieren, er habe ihn aus Versehen für den Hausdiener gehalten. Diese
       Anekdote war Teil einer gekonnten Verschleierungstaktik.
       
       Channon beschrieb, was Halifax ihm nach seinem Besuch bei Hitler im Jahr
       1937 tatsächlich erzählt hatte: „Er sagte, er mochte alle ranghohen Nazis,
       sogar Goebbels!, den sonst niemand mag. Er war sehr beeindruckt,
       interessiert und amüsiert von dem Besuch. Er findet das Regime fantastisch,
       vielleicht zu fantastisch, um es ernst zu nehmen. Aber er ist sehr froh,
       hingefahren zu sein, und glaubt, dass daraus Gutes entstehen wird.“
       
       Kurz darauf machte Premierminister Chamberlain Halifax zu seinem neuen
       Außenminister (Channon hatte noch schnell ein schlechtes Wort für den
       Vorgänger Anthony Eden eingelegt). Von nun an war Chips ganz nah am
       Geschehen und ging im Auswärtigen Amt ein und aus.
       
       ## Brutale Ehrlichkeit
       
       Er redete sich im März 1938 den „Anschluss“ seines Urlaubsorts Österreich
       schön („die Hälfte der Bevölkerung ist sowieso nationalsozialistisch
       eingestellt“), zeigte Verständnis für Hitlers Forderungen gegenüber der
       Tschechoslowakei und war begeistert, als Chamberlain mit dem Münchner
       Abkommen „den Frieden rettete“. Mit diesem atemberaubenden Höhepunkt endet
       Band eins.
       
       Das Tagebuch besticht durch seine brutale Ehrlichkeit. An einer Stelle
       beschreibt Chips Channon, wie langweilig sein eigenes Gesicht aussehe.
       Tatsächlich erinnert es in seiner makellosen Ausdruckslosigkeit an die
       endlose Leere des Mittleren Westens.
       
       Trotzdem wäre es falsch, dieses leere Gesicht zu unterschätzen. Chips mag
       ein oberflächlicher, reaktionärer Snob gewesen sein. Doch wenn Churchill im
       Jahr 1940 nicht Premierminister geworden wäre, hätten Leute wie Channon
       katastrophalen Schaden anrichten können.
       
       Es war knapp.
       
       11 Apr 2021
       
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