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       # taz.de -- Olympia in Tokio: Hochamt der Muskelreligiösen
       
       > Warum die Olympischen Sommerspiele unverzichtbar sind für eine
       > Sportgemeinde, die einen Ausweg aus dem Verbotsparadigma sucht.
       
   IMG Bild: Verräterischer Fingerzeig: Die deutsche Schwimmerin Anna Elendt möchte auch zu den Spielen
       
       Es ist derzeit schwer angesagt, all das, was Spaß und Zerstreuung
       verspricht, unter Verdacht zu stellen. Das Vorsorgeprinzip beherrscht
       staatliches Handeln, Szenarien eines dräuenden Unheils befeuern die
       Exekutive beim allmonatlichen Verfassen neuer Rechtsverordnungen. Der
       hygienische Alltag und die Coronaprophylaxe sind im
       gesellschaftspolitischen Kartenspiel Ober und Unter, Abwehrrechte gegen den
       Staat zumeist nur die Luschen, die im Spiel der Inzidenzen vor allem dazu
       dienen: abwerfen und Farbe bekennen.
       
       In diesem Klima eines gedämpften Dahinlebens unter aseptischen Bedingungen,
       das schon seit Monaten Normalität als etwas Fernes, ja geradezu
       Unerreichbares markiert, muss natürlich das Ansinnen, ein sportliches
       Großereignis wie die Olympischen Sommerspiele durchzuführen, als unerhört,
       dreist und unverantwortlich aufgefasst werden: How dare you!
       
       Kein Wunder also, dass [1][ein Autor in der New York Times] gerade die
       Olympischen Spiele, ja die gesamte olympische Bewegung unter
       Generalverdacht gestellt hat. Er schreibt im Duktus eines
       Untergangspredigers: „Die Spiele von Tokio könnten ein dreiwöchiges
       Superspreader-Event werden, das in ganz Japan und weit darüber hinaus zu
       Tod und Krankheit führt.“ Das Event sei ferner viel zu teuer, der
       Markenkern beschädigt, kurzum: „Die olympische Mission ist ein Chaos, das
       langfristig repariert werden muss.“
       
       Am besten, man machte den Laden komplett dicht: Lockdown für die Spiele,
       Ausgangssperre für ein Internationales Olympisches Komitee, das ohnehin nur
       [2][dem Mammon frönt]. Und um den Gedanken des besorgten Kollegen
       weiterzudrehen: Ist eine dauerhafte Digitalisierung des Wettkampfs nicht
       unumgänglich, die Vertagung physischer Auseinandersetzungen in eine Zeit
       des antiviralen Triumphs? Ist ein analoges Olympia des Teufels?
       
       ## „Tendenz zum Exzess“
       
       Nein, die Spiele, über die der Kollege zu Gericht sitzt, haben keine Gnade
       verdient, denn sie „sind heute ein Synonym für einen Skandal vieler Arten
       einschließlich Doping, Bestechung und körperlicher Misshandlung von
       Sportlern“. Das ist natürlich nicht ganz falsch. Das IOC war in vielerlei
       Hinsicht kein leuchtendes Beispiel, und schon der selige Baron de Coubertin
       musste einräumen, der olympische Leistungssport trage die „Tendenz zum
       Exzess“ in sich.
       
       Aber es scheint doch derzeit wieder en vogue zu sein, mit rostigen Bazookas
       auf Olympia zu schießen – und dabei eine Sportlerin zu treffen, die zuletzt
       vorzugsweise damit beschäftigt war, ihre Form auf dem Hometrainer zu
       konservieren. Störend an der auch in deutschen Medien [3][beliebten
       Fundamentalkritik an Olympia] ist nicht die Substanz, sondern ihre
       Maßlosigkeit, die Unlust am differenzierten Urteil, die dem Geist
       manichäischer Sektierer zu entspringen scheint.
       
       In dieser Welt werden Daumen gesenkt oder gehoben, sind Funktionäre böse –
       oder nicht von dieser Sportwelt. Dabei soll es tatsächlich Millionen von
       Menschen geben, die sich auf Olympia freuen. Ohne all die
       Immobilienspekulanten und anderen [4][Belzebuben im Dunstkreis der Ringe]
       exkulpieren zu wollen, richten die Olympioniken den Blick nach vorn. Die
       (ausgesperrte) Fangemeinde ist riesig.
       
       Hekatomben dürsten nach Monaten des vorbehaltlichen Sports nach diesem
       Event, das unverkitscht eine sakrale Strahlkraft entwickelt, einen Sog des
       Unmittelbaren, der selbst Sportmuffel in sich hineinzieht. Aus der
       „Muskelreligion“ des Olympismus leitet sich ein quasireligiöses
       Heilsversprechen ab. Dieses Ritual, dem katholischen Budenzauber durchaus
       artverwandt, muss den Adepten des Verzichts naturgemäß übel aufstoßen.
       
       18 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.nytimes.com/2021/04/12/sports/olympics/olympic-games-boycott-tokyo-beijing.html
   DIR [2] https://stillmed.olympic.org/media/Document%20Library/OlympicOrg/Documents/IOC-Marketing-and-Broadcasting-General-Files/Olympic-Marketing-Fact-File.pdf
   DIR [3] https://www.spiegel.de/sport/olympia/olympische-spiele-in-tokio-2021-wie-hoch-darf-der-preis-sein-a-6e7c1e08-c59b-441b-9518-d1b5cacd2da4
   DIR [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Zanes
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Markus Völker
       
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