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       # taz.de -- Fotograf Timm Rautert im Museum Folkwang: Künstler mit vielen Handschriften
       
       > Das Museum Folkwang in Essen widmet Timm Rautert eine große
       > Retrospektive. Der vielseitige Fotograf feiert dieses Jahr seinen 80.
       > Geburtstag.
       
   IMG Bild: Geishas im Zug von Timm Rauter, 1970 (Ausschnitt)
       
       Schon auf den ersten Metern [1][der umfassenden Retrospektive] „Timm
       Rautert und die Leben der Fotografie“ kommt Verwirrung auf: Wo ist sie denn
       nun zu erkennen, die Handschrift des Fotografen Timm Rautert? In der
       experimentellen Variationsreihe von 1967, die Detailaufnahmen des
       Glühfadens einer Glühbirne zeigen?
       
       In den dokumentarischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus New York von 1969? Im
       kunstvollen, mit Spiegelungen arbeitenden Porträt des großen tschechischen
       Fotografen Josef Sudek? In den Werken der „Bildanalytischen Photographie“,
       die grundlegende Fragen an die Kunstform stellen? Wahrscheinlich ist sie am
       ehesten aus dem Porträt seines Fotografie-Professors Otto Steinert
       herauszulesen.
       
       In den 1960er Jahren studierte Timm Rautert an der Vorgängerin der Folkwang
       Universität der Künste in Essen, und als Steinert 1967 für einen Katalog
       seine Schüler*innen porträtierte, bat Rautert darum, die Situation
       einmal umkehren zu dürfen.
       
       Entstanden ist ein Porträt, das auf den ersten Blick einen typischen
       Macht-Mann aus der Kunstwelt seiner Zeit zeigt: Steinert sitzt mit
       Lackschuhen, schwarzem Anzug, weißem Wollkragenpullover, Hornbrille,
       dicker Zigarre zwischen den Fingern mit stolzem, herausforderndem Blick
       aufrecht auf einem unsichtbaren Stuhl oder Hocker.
       
       ## Die Figur bekommt etwas gedrungenes
       
       Timm Rautert räumt seiner Gestalt allerdings nur ein Drittel des Bildes
       (die Mitte) ein, Kopf und Schuhe sind angeschnitten. Dadurch bekommt die
       Figur Otto Steinert etwas Gedrungenes, Zusammengeschrumpftes, auch
       Flüchtiges, vielleicht Verletzliches. Porträtierten und Porträtierenden
       einten harte Kriegserfahrungen.
       
       Steinert hat unter anderem als Stabsarzt am Russlandfeldzug teilgenommen,
       wandte sich nach dem Krieg von der Medizin ab und der Kunst zu. Der Vater
       des 1941 im westpreußischen Tuchel geborenen Rautert fiel 1943 in Russland,
       nach dem Krieg floh seine Mutter mit ihm nach Fulda.
       
       Als er nach seiner Gestalter-Lehre zum Fotografie-Studium gefunden hatte,
       entwickelte er schnell Spaß am Experiment mit der Technik und am Spiel mit
       den Formen. Als Abschlussarbeit wollte sein Professor die „Bildanalytische
       Photographie“ allerdings nicht akzeptieren.
       
       Wie Gisela Parak im brillant editierten Ausstellungskatalog herausarbeitet,
       stand Steinerts Lehre der Emanzipation der Fotografie als freiem
       künstlerischen Ausdrucksmittel skeptisch gegenüber: „Sie zielte eher auf
       die berufliche Anschlussfähigkeit angehender Bildjournalisten ab.“ So
       bewegte sich Timm Rautert zeitlebens zwischen zwei Polen: Kunst und
       Journalismus.
       
       ## Das Flugzeug in den Lüften
       
       Die selbstreflexive Praxis der „Bildanalytischen Photographie“ behielt er
       auch Jahre nach Abschluss seines Studiums noch bei. In der Ausstellung
       hängt etwa „Boeing 737“ von 1974, eine zweiteilige Arbeit: Der erste Teil
       zeigt die Hochglanz-Postkarte einer Boeing mit Lufthansa-Emblem, die
       majestätisch in blauen Lüften schwebt.
       
       Im zweiten Teil hält der Fotograf diese Postkarte vor seine Linse und zeigt
       den eher trist wirkenden Innenraum des Großflugzeugs, in dem die Passagiere
       in gelben Sitzen zusammengepfercht und -gesunken sitzen.
       
       Das Hauptwerk des Fotografen Timm Rautert machen allerdings nicht solch
       anregende Reflexionen aus, sondern journalistische Arbeiten und Porträts.
       Für das Zeit-Magazin lieferte er Bilder zu Reportagen über behinderte
       Kinder, jugendliche Problemfälle oder Obdachlose.
       
       Er schaffte es, Zugang zu den abgeschottet lebenden Amischen in den USA zu
       finden, ihr gemeinschaftsorientiertes, der Moderne mit ihrer Technologie
       abgewandtes Leben einzufangen – und dabei in seinen Bildern sogar ein
       Gefühl dafür zu vermitteln, dass er selbst dort wie ein Fremdkörper gewirkt
       hat und das Medium der Fotografie bei seinen „Objekten“ eigentlich auf
       deutliche Ablehnung stieß.
       
       ## Warum die Philharmoniker?
       
       Ähnlich berückende Aufnahmen gelangen ihm, als er den befreundeten
       Journalisten Michael Holzach besuchte, der ein Jahr bei der Volksgruppe
       der Hutterer in Kanada verbrachte. Solche Projekte erzählen zum einen von
       der Zeit nach 1968, als weite Teile der Gesellschaft die materialistische
       Lebenseinstellung hinterfragten, und zum anderen von einer goldenen Ära des
       (Print-)Journalismus, in dem solche ambitionierten Vorhaben Unterstützung
       fanden.
       
       Diese Bilder heute museal auszustellen ergibt durchaus Sinn. Verwunderlich
       ist hingegen, wenn eine komplette Wandlänge für Timm Rauterts Begleitung
       der Berliner Philharmoniker reserviert ist und einen Abdruck einer
       Buchveröffentlichung über das Orchester von 1987 zeigt. Auch wenn die
       Motive aus der Welt der Kultur stammen, gehören sie doch eher in die Welt
       der Gebrauchsfotografie für den Marketing-Bereich.
       
       Berühmt geworden sind Timm Rauters Porträts bekannter Persönlichkeiten wie
       Andy Warhol oder Joseph Beuys. Faszinierender ist seine Serie mit
       Ganzkörper-Porträts vor neutralem Hintergrund von „Deutschen in Uniform“:
       Da hängt das Bild der Schwesternschülerin neben dem des Polizisten, des
       Soldaten, der Pfarrer, der Schaffnerinnen oder der Karnevalisten. Die
       Bilder schwanken zwischen der Würde eines Amts, dem Ausstellen deutscher
       Spießigkeit, freiwilliger und unfreiwilliger Komik.
       
       Und wenn man sich gerade entschieden hat, dass Rauterts originäre
       Handschrift doch am ehesten in seinen Porträts zu finden ist, gerät man an
       seine arbeitssoziologischen Werke aus der Serie „Gehäuse des Unsichtbaren“,
       wo der Mensch hinter komplizierten Industrie-Maschinen verschwindet – oder
       an die späten, abstrakt-künstlerischen Arbeiten des inzwischen als
       [2][Hochschulprofessor für Fotografie in Leipzig] Wirkenden.
       
       So ist der Ausstellungstitel Programm: Timm Rauterts Leben hat sich
       tatsächlich aufgerieben, aber auch brilliert in den vielen Leben der
       Fotografie nach dem Zweiten Weltkrieg.
       
       15 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Max Florian Kühlem
       
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