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       # taz.de -- Erzählband von Eva Schmidt: Blicke aus dem Fenster
       
       > In „Die Welt gegenüber“ versuchen Frauen aus den Care-Berufen der
       > Einsamkeit zu entkommen. Eva Schmidt wählt dafür eine ruhige,
       > unprätentiöse Prosa.
       
   IMG Bild: Eva Schmidt, 2016, am Rande einer Lesung im Literaturhaus in Frankfurt am Main
       
       Über den Blick aus dem Fenster schrieb Robert Walser einmal, er erzeuge in
       uns eine Sehnsucht. Und sehnsüchtig sein heiße „nicht wissen, wohin man
       möchte“. Entzündet sich dieses diffuse Verlangen aber einfach so? Oder vor
       allem am Anblick anderer Menschen, den das Medium Fenster zugleich
       vermittelt, wie es sie auf Distanz hält? Letzteres lässt jedenfalls Eva
       Schmidts Erzählung „Die Störung“ vermuten.
       
       In ihr hat die Hauptfigur, Ehefrau und Mutter zweier erwachsener Töchter,
       buchstäblich alles getan, um einmal ohne das Wissen ihrer Familie ein
       „ungestörtes Wochenende“ zu genießen. In einer einsam gelegenen Hütte
       irgendwo in den verschneiten Wäldern nahe Kanada quartiert sie sich ein.
       Ihrem nur um sich selbst kreisenden Mann hat die Psychotherapeutin die
       Teilnahme an einer Konferenz aufgetischt.
       
       Ganz so, als ginge es bei ihrem Vorhaben um einen Seitensprung und nicht
       darum, „einfach mal ein paar Tage allein zu sein“, ohne dass sich jemand in
       ihr Leben einmischt.
       
       Als sie plötzlich von draußen Geräusche hört, werden zunächst
       Bedrohungsängste getriggert. Doch dann steht die Frau, die unbedingt allein
       sein wollte, am Panoramafenster und verfolgt gebannt, wie sich in der
       Winteridylle eine Menschengruppe über einen zugefrorenen See bewegt,
       langsam und zielstrebig wie auf einer Expedition. Ein Aufbruch ins
       Unbekannte, von dem offen bleibt, ob ihm die Frau am Fenster folgen wird.
       
       ## Der Fensterblick als Leitmotiv
       
       Wie schon in früheren Werken hat Eva Schmidt auch in ihrem neuen Buch,
       einem Erzählband, den Fensterblick zum Leitmotiv ihres Figurenpersonals
       gemacht. Programmatisch ist schon der Titel des Bandes: Denn die „Welt
       gegenüber“ ist es, die in den Protagonist*innen der österreichischen
       Autorin, [1][meist älteren Frauen aus Care-Berufen], die Hoffnung wach
       werden lässt, der Einsamkeit doch noch zu entkommen.
       
       In „Die Nacht“ beobachtet die Ich-Erzählerin von ihrem Pensionszimmer in
       Brighton aus das Paar in der Ferienwohnung gegenüber, registriert in einem
       „Zustand unerträglicher Wachheit“ eine Handbewegung hier, eine liebevolle
       Umarmung dort.
       
       „Es waren nicht viel mehr als Andeutungen von Leben, kleine Ausschnitte von
       Alltäglichem, zusammengesetzt aus kurzen Auftritten und spärlichen Gesten
       mir vollkommen fremder Menschen, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen.“
       Zuzusehen, wie gegenüber eine fremde Frau mit ruhigen, zupackenden
       Handgriffen das Frühstück anrichtet, vermag sogar die düsteren Gedanken zu
       verscheuchen, die der Ich-Erzählerin allnächtlich „wie eine Horde von
       Mäusen“ durch den Kopf wuseln.
       
       Die zwölf Erzählungen des Bandes sind von unterschiedlicher Länge und
       unspektakulär selbst da, wo sie von Diebstahl, Stalking oder rechter Gewalt
       handeln. Ihre Protagonist*innen zeichnen sich durch eine Gemeinsamkeit
       aus: Fremdes Leben übt auf sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus.
       
       ## Sympathisch ruhige, unprätentiöse Prosa
       
       Charakteristisch für Schmidts Texte ist dabei eine sympathisch ruhige,
       unprätentiöse Prosa, die mit wenig Aufwand Atmosphäre schafft und vieles
       der Einbildungskraft der Leser*innen überlässt wie das Motiv des Mannes,
       der in „Das Fehlende“ einen Jungen aus schwierigen Verhältnissen auf eine
       leer stehende Almhütte entführt.
       
       Auf formale Mätzchen verzichtet die 68-jährige Bregenzerin weitgehend, die
       es 2016 mit ihrem [2][Roman „Ein langes Jahr“ auf die Shortlist] des
       Deutschen Buchpreises schaffte. Und sofern sie doch einmal etwas so
       Avanciertes wie etwa Perspektivwechsel einsetzt wie in „Der Mann von
       der Tankstelle“, worin die Gutmütigkeit eines einsamen Gärtners von einer
       jungen Ausreißerin ausgenutzt wird, verheddert sie sich prompt im Hin und
       Her.
       
       Umso eindrucksvoller ist es, wie es der Autorin in ihren Texten ein ums
       andere Mal gelingt, die stillen Dramen erkennbar werden zu lassen, die sich
       unter der Alltagsoberfläche abspielen.
       
       „Doch es gab nicht viel zu erzählen“, heißt es in „Vielleicht nach Skagen“,
       der wohl stärksten Erzählung des Bandes, als die beste Freundin es vor
       Neugier kaum aushält, nachdem die Protagonistin Anna eines Tages einen
       alleinstehenden Mann als Untermieter bei sich einziehen lässt.
       
       ## Hunden kommt die Rolle stummer Nebenfiguren zu
       
       Und richtig, die zart-distanzierte Freundschaft, die sich zwischen der
       pensionierten Hebamme Anna und dem wortkargen, ständig erschöpft
       dreinblickenden Theaterschauspieler Morten anzubahnen scheint, ist im
       Grunde ereignislos. „Er sei gern mit ihr zusammen, erwiderte er, wandte
       sich aber gleich wieder ab“: Mit diesem Satz auf einer Reise ist auch schon
       der Punkt maximaler Annäherung zwischen den beiden markiert.
       
       Zu diesem Zeitpunkt ist längst klar, dass Morten schwer krank ist. Eine
       „unerhörte Begebenheit“ ist jedoch, mit welch fast schon unheimlicher
       Gefasstheit die Protagonistin sich nach Mortens Tod um ihn und seinen
       Nachlass kümmert – als hätte sie längst damit gerechnet, dass alles so und
       nicht anders enden würde.
       
       Hunden kommt in dieser wie in anderen Erzählungen Schmidts die Rolle
       stummer Nebenfiguren zu, sie tragen so schöne Namen wie Myschkin, Igor oder
       Baldur. Mal dienen sie als Trostspender oder Signalgeber, ob einem Fremden
       zu trauen ist, mal wie in „Die Nacht, in der Jessica über das Seil
       stolperte“ als Vorwand, um stehen zu bleiben und das Treiben der neuen
       Nachbar*innen zu beobachten.
       
       Sofern man es nicht längst wie die Ich-Erzählerin Olga, eine ehemalige
       Krankenschwester, vom Badezimmer aus im Blick hat, dabei mühsam auf einem
       Hocker balancierend, als böte das Fenster Fernseh- und Familienersatz in
       einem.
       
       12 Apr 2021
       
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