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       # taz.de -- Kolonialgeschichte im Linden-Museum: Kopflose Buddhas
       
       > Das Stuttgarter Linden-Museum arbeitet seine Gründungsgeschichte auf.
       > Dabei stellt sich die Ausstellung am Ende auch selbst zur Diskussion.
       
   IMG Bild: Sammelwütiger Förderer der Forschung oder doch nur sammelwütiger Hehler? Karl von Linden
       
       Obstnamen sind unverfänglich. Aus der Tanga-Straße wurde die Quittenstraße,
       aus der Wissmann-Straße die Johannisbeerstraße und aus der
       Deutsch-Ostafrika-Straße die Aprikosenstraße. Das ist schon länger her.
       Nach dem Zweiten Weltkrieg bekamen in Stuttgart zahlreiche während der
       Kolonialzeit benannte Straßen neue Namen.
       
       Mit dem Booklet der Ausstellung des Linden-Museums „Schwieriges Erbe.
       Linden-Museum und Württemberg im Kolonialismus“ lässt sich trotz Lockdown
       das koloniale Stuttgart erkunden, denn eine Vielzahl von Denkmälern und
       Gedenktafeln, ehemaligen Versammlungsorten und Geschäftsstellen sind auf
       einer Karte verzeichnet. Die Ausstellung musste leider nach kurzer
       Öffnungszeit wieder pandemiebedingt geschlossen werden.
       
       Am Anfang des Projekts stand die Feststellung, dass so gut wie keine
       Literatur zur Entstehung des [1][Linden-Museums] verfügbar war. Deshalb gab
       das Linden-Museum 2018 [2][bei dem Kolonialismus-Forscher Heiko Wegmann],
       Initiator der Plattform freiburg-postkolonial, eine Studie in Auftrag.
       
       Deren vorläufige Ergebnisse waren so „bedeutsam“, wie es die Direktorin
       Inés de Castro ausdrückte, dass eine Ausstellung in eigener Sache sich
       förmlich aufdrängte. Die Inhalte lieferten Wegmann und der
       Provenienzforscher des Linden-Museums, Markus Himmelsbach.
       
       ## Erschlagen von den Textmassen
       
       Wer die Ausstellung betritt, ist zunächst erschlagen von den Textmassen und
       Schautafeln an den Stellwänden. Doch dauert es nur wenige Minuten, bis der
       Zeitstrahl, die Diagramme und Karten mehr mitteilen, als ein homogener Text
       dies könnte. [3][Die Stuttgarter Kolonialbewegung war Teil der
       Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreichs und ragte tief in die NS-Zeit
       hinein].
       
       [4][Die Sammlungen des 1911 eröffneten Linden-Museums] gehen auf die
       Sammlungen des 1882 gegründeten Württembergischen Vereins für
       Handelsgeographie und die Förderung deutscher Interessen im Ausland
       (WVHGeo) hervor, in deren Trägerschaft sich das Museum bis 1973 befand.
       Eine Weltkarte mit verschiedenen Größenproportionen lädt ein, mit einem rot
       oder blau gefärbten Glas das eigene Weltbild neu zu erkunden.
       Eurozentrismus hat nicht nur eine weltanschauliche Komponente, sondern auch
       eine geografische.
       
       Es geht um Daten und Fakten, aber auch um einen neuen Blick auf ein
       vermintes Gelände. Das LindenLAB 5, die mit der Neuausrichtung des Museums
       befasste Arbeitsgruppe, und die Gestalter Holzer Kobler aus Zürich setzten
       die angestrebte Multiperspektivität um. Deshalb hängt das Porträt des
       Namensgebers des Museums, Karl von Linden, nicht unkommentiert an der Wand.
       
       ## Legitimiert durch die sogenannte Rettungsethnologie
       
       Vielmehr wird im grafisch aufbereiteten Wandtext gefragt, ob der
       langjährige Vorsitzende der WVHGeo vielleicht nicht nur als ein Förderer
       der Forschung, sondern auch als sammelwütiger Hehler gesehen werden kann.
       Er handelte im Sinne der sogenannten „Rettungsethnologie“. Karl von Linden
       sah sich durch das Bewusstsein legitimiert, dass die Kolonisierung
       unweigerlich zur Zerstörung der von den Europäern kolonisierten Kulturen
       führen würde.
       
       Von seinem Schreibtisch aus baute er ein riesiges Netzwerk von Zuträgern
       auf. Im Dienst der Sache schrieb er bis zu 1.000 Briefe im Jahr. Sein
       Sammeleifer macht von Linden zu einer ambivalenten Figur, vielleicht auch
       zu einer Symbolfigur für die kolonialen Verstrickungen der damaligen Elite.
       
       Immer deutlicher wird, wie die „Kolonialbewegung“ um 1900 vielfältige
       Strukturen in Politik, im Handel und im Militärwesen ausgebildet hat, die
       wiederum eng mit privaten und gesellschaftlichen Aktivitäten verbunden
       waren. Die Ludwigsburger Kaffee-Firma Heinrich Franck & Söhne etwa
       unterstützte das Linden-Museum finanziell und warb auf Sammelbildern für
       den Kolonialismus, die sie ihren Produkten beilegte.
       
       Ausschneidebögen für ein afrikanisches Dorf oder Dschungel-Kulissen für
       Kasperle-Theater trugen den Gedanken des Kolonialismus bis in die
       Kinderzimmer. Kolonialwarenläden gehörten zum alltäglichen Stadtbild. Doch
       war die Kolonialpolitik schon damals umstritten, was an einer Stelle der
       Ausstellung angedeutet wird.
       
       Teile der Sozialdemokratie und liberale Kreise kritisierten die brutale
       Kriegsführung der deutschen Truppen im Ausland. Ausgestellt ist eine
       entsprechende Karikatur aus der Zeitschrift „Der wahre Jacob“. Ihr
       Redakteur Karl Schmidt musste sich 1901 wegen Beleidigung des
       Expeditionskorps vor Gericht verantworten.
       
       Man könnte sich fragen, warum die Aufarbeitung der Geschichte des
       Linden-Museums eine dermaßen breite Recherche nach sich zog. Oftmals sind
       es die Sammlungsobjekte selbst, deren Spuren auf kolonialistische Kontexte
       verweisen. In einer Vitrine ist eine Buddha-Statue ungewöhnlich prominent
       hervorgehoben. Der Kopf der kleinen Figur war einmal abgebrochen, die
       Reparatur nur notdürftig ausgeführt.
       
       ## Carl Waldemar Werthers' Thronbuddha
       
       Dieser Makel machte sie für den Provenienzforscher Markus Himmelsbach zu
       einem identifizierbaren Objekt. Die Figur stammt aus der Sammlung Carl
       Waldemar Werthers, der als Leiter der Nachrichten-Expedition der deutschen
       Streitkräfte am „Boxerkrieg“ (1900/01) in Ostasien teilnahm. In einem Brief
       an Karl von Linden berichtete Carl Waldemar Werther freimütig, dass er die
       aus Tibet stammende Figur aus dem Tempel der 10.000 Buddhas in der Pekinger
       Kaiserstadt geplündert habe. Er setzte hinzu, dass ein Thronbuddha den Kopf
       verloren habe, wie auch viele Chinesen dort.
       
       Der Rassismus der damaligen Zeit äußerte sich unter anderem in den
       Völkerschauen, die auch in Stuttgart zu den populären Unterhaltungsformaten
       gehörten. Himmelsbach und Wegmann konnten für die Zeit zwischen 1857 und
       1930 Belege für knapp dreißig solcher Veranstaltungen finden, bei denen
       auch Menschen aus Lappland, Indien oder Nordamerika zur Schau gestellt
       wurden.
       
       Wie aber die Macht des Blicks darstellen, den Mechanismus von Betrachtern
       und Betrachteten aufheben? In Stuttgart ist nicht nur eine Aufnahme von
       einer Völkerschau in Lamellentechnik wandfüllend präsent. Ihr komplementär
       gesetzt ist eine Fotografie der damaligen Schaulustigen, die nun ihrerseits
       zum Objekt der Beobachtung werden.
       
       ## Die Ausstellung stellt sich zur Diskussion
       
       Ob solche Strategien der Umkehrung funktionieren, sollen die
       Besucher*innen entscheiden. Die Werkstatt-Ausstellung stellt sich am
       Ende der Schau selbst zur Diskussion. Jeder kann in die bereitstehenden
       Laptops schreiben, was er denkt. Soll das Linden-Museum weiterhin den Namen
       des Gründers tragen? Sollen Straßennamen umbenannt werden? Die
       Konrad-Adenauer-Straße vielleicht?
       
       Der spätere Bundeskanzler war laut Recherche des Linden-Museums in den
       Jahren 1931 bis 1933 stellvertretender Präsident der Deutschen
       Kolonialgesellschaft. Oder die Mauser-Straße, denn die Firma Mauser & Co
       aus Oberndorf stattete die Kolonialtruppen mit Gewehren aus? Wahrscheinlich
       muss im Einzelfall entschieden werden.
       
       In Stuttgart jedenfalls dürfte nach dieser historischen Tiefenbohrung das
       „schwierige Erbe“ nicht mehr zu ignorieren sein. Die Fülle und Brisanz des
       Materials zur Geschichte des Linden-Museum wie auch das innovative und
       sprachsensible Konzept der Vermittlung machen deutlich, auf welcher
       Grundlage sich Institutionen erneuern können.
       
       19 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Carmela Thiele
       
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