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       # taz.de -- Wie sich die Deutschen sehen: Naiv-gut und ungeschickt
       
       > Grob und linkisch, aber immer geradeaus und ehrlich:
       > Literaturwissenschaftler Ulrich Breuer hat ein Buch über deutsche
       > Ungeschicklichkeit geschrieben.
       
   IMG Bild: Metapher für ungeschickten Deutschen: ein Bär, der nicht gegen seine Natur handeln möchte
       
       Wer seine Stärken öffentlich ausspielt und seine Schwächen zu verbergen
       vermag, der gilt als geschickt. Umgekehrt geht es allerdings auch: Sich
       nämlich als ungeschickt zu präsentieren, um so den eigenen Absichten den
       Anschein des Naiv-Guten zu verleihen; und am besten ist es natürlich, beide
       Strategien gleichzeitig anzuwenden. Meisterlich verfuhr so kürzlich
       Wolfgang Thierse [1][in der x-ten Debatte um eine durch „linke
       Identitätspolitik“ verursachte angebliche Spaltung der Gesellschaft.]
       
       Mit keinem Wort erwähnte Thierse in seinen Ausführungen – und auch niemand
       anders –, dass mehr als jedes Gendersternchen er selbst in damals führender
       Postion in Staat und SPD mitverantwortlich für das radikalste politische
       Spaltungsprojekt der jüngeren deutschen Geschichte ist – die sogenannten
       Hartz-IV-Reformen; und dass es ja vielleicht wirklich von ihm beklagte
       „falsche kulturelle Frontbildungen“ sein mögen, die heute die allerletzte
       Supermarktkassierer:in der Sozialdemokratie entfremden, dass es aber
       unbestritten der bewusste Hartz-Affront gegen die Facharbeitschaft war, der
       die SPD zur Splitterpartei gemacht hat.
       
       Dass Wolfgang Thierse mit seiner unschuldig-abgefeimten,
       katholisch-ratzingerhaften Diskursstrategie so glatt durchkam, könnte aber
       eben auch an seiner in den 1990er Jahren von Titanic klassisch etablierten
       Rolle als ungeschickter „Ossi-Bär“ liegen. [2][Nach eigener Aussage „nicht
       das Übelste“, was einem Politiker passieren könne] – zeige die Typisierung
       doch, dass man bekannt sei.
       
       Dass dem Ossi als spätestem Verwandten des Deutschen Michel Böses eben
       immer nur passiv widerfährt, er von fremden Mächten fortgesetzt betrogen
       und belogen wird und er dann eben auch einfach nicht anders kann, denn als
       wilder Zottelbär durch diese verkünstelte Welt der ihm aufgezwungen
       Cancel-Zivilisation zu stapfen – all das sind Motive, die man aus Ulrich
       Breuers in jedem Sinn großer historischer Studie „Ungeschickt: Eine
       Fallgeschichte der deutschen Literatur“ in den Gegenwartsdiskurs mitnehmen
       kann; und das selbstverständlich auf eigene Verantwortung und nicht auf die
       Breuers, auch wenn der den Bären seiner Studie sogar als Motto voranstellt:
       „Ich sah in die Vergangenheit bis in den mit Bären bevölkerten Deutschen
       Urwald hinein“ (Friedrich Hebbel).
       
       ## Legitimationsinstanz der Natur
       
       Und durchaus bärig macht der Autor auch die vielleicht wichtigste
       Umwertungen in der Geschichte der deutschen Ungeschicklichkeit in der
       Frühaufklärung fest. Sie geht einher mit einer „zunehmend entschiedenen
       Ablehnung der höfischen Kultur und ihrer von Frankreich bestimmten
       Formkonventionen“, heißt es im Kapitel „Tanzbären“. Es ist die
       „Legitimationsinstanz der Natur“, die zu Gunsten des „Teutschen
       ungeschicks“ angerufen wird, während die unglücklichen Tanzbären durch
       Übung gezwungen werden, gegen ihre Natur zu handeln.
       
       Als ein Beispiel unter vielen anderen Bärenfabeln der Zeit analysiert
       Breuer ausführlich Goethes Gedicht „Lillis Park“ (1775), in dem ein
       verliebter Bär in die Rokoko-Menagerie der Geliebten eindringt, dort putzig
       zugerichtet werden soll, dann aber lieber trotzig regrediert – oder es
       jedenfalls versucht –, um sich nicht mit sozialen Konventionen arrangieren
       zu müssen, um ein „echter Bär“, um „unabhängig“ und „ein Mann“ zu bleiben.
       Männliche Ungeschicklichkeit und die daraus folgende Regression und
       Misogynie gehen hier eine für die deutsche Geschichte folgenreiche
       Beziehung ein, noch Botho Strauß inszeniert sich laut Breuer als „deutscher
       Idiot“.
       
       Was der Mainzer Literaturwissenschaftler vorlegt, ist eine Geschichte der
       Ungeschicklichkeit in der deutschen Literatur. Vom ausgehenden Mittelalter
       bis in die jüngste Vergangenheit verfolgt er die Wandlung des Begriffs in
       Wörterbüchern und Kunsttexten. „Ungeschicklichkeit ist speziell den
       Deutschen zugeschrieben worden. Sie gehört zur Konstruktion und Figuration
       eines deutschen Nationalcharakters“ seit Tacitus’ antiker Ethnologie
       „Germania“ und ihrer Wiederentdeckung und Vereinnahmung durch deutsche
       Humanisten. Warum genau diese Zuschreibung angenommen wird und sich bis zur
       Nationalfigur des ungeschlachten „Deutschen Michel“ steigert, bleibt dabei
       letztlich auch von Breuer unbestimmt.
       
       Mit Luther taucht aber jedenfalls zu Beginn der Neuzeit ein deutscher
       Mensch auf, der sich selbst prahlend als „Barbar unter Barbaren“ bezeichnet
       und zu einem Zeitpunkt beginnt, fundamentalistische Ideen zu entwickeln, zu
       dem Michelangelo in Rom die Sixtinische Kapelle ausmalt. Luther etabliert
       das deutsche Schema, man dürfe ruhig andere mit seinen Ausführungen zu Tode
       langweilen, wenn man nur überzeugt sei, recht zu haben, in seinem
       ungeschickten Latein: „sermone sum imperitus, rerum tamen non sum
       imperitus.“
       
       ## Gegen die Zumutungen des Neuen
       
       Innen hui, außen pfui, wandelt Breuer den „umgangssprachlichen
       Phraseologismus“ ab – und hier empfiehlt sich der zwischengeschobene
       Hinweis, dass wer Angst vor Begriffen (und ihrem Nachschlagen) wie
       „Affordanz“ und „Bifurkation“ hat, mit Breuers Buch nicht so viel Spaß
       haben wird, wie es möglich ist.
       
       Die ernsteste Komponente in Breuers Buch ist die, wo der deutsche
       Ungeschicklichkeitsdiskurs im Abwehrkampf gegen die Moderne eingespannt
       wird. Die christlichen Mehrheitsdeutschen des 19. Jahrhunderts sehen sich
       durch die raschen Innovationsschübe und die nötigen Anpassungsleistungen
       überfordert und konstruieren sich historistisch eine so glorreiche wie
       barbarische Germanen-Vergangenheit, um den Zumutungen der Neuerungen und
       Freiheiten des aufziehenden Liberalismus etwas entgegensetzen zu können; da
       ein solch kapitulierender Rückzug vor der Realität einen immer nur
       unglücklich machen kann, braucht es einen Feind, die Juden.
       
       Die nämlich zeigen sich laut Breuer erfreut von und geschickt im Umgang mit
       den neuen Freiheiten nach Jahrhunderten der gnadenlosen Verfolgung und
       Unterdrückung: „Zugunsten ihrer reichhaltigen Vergangenheit dürfen die
       deutschen Christen die Gegenwart vernachlässigen und sie neidisch und
       zunehmend auch hasserfüllt den deutschen Juden überlassen.“ Was sich in der
       Literatur des 19. Jahrhundert noch in mehr oder weniger liebenswürdigen
       Außenseitern und Tollpatschen manifestiert, führt in der Realität des 20.
       Jahrhunderts zum Zivilisationsbruch von Holocaust und Vernichtungskrieg.
       
       Springen wir überleitungslos ins Heute. Wer ungeschickt handelt, verstößt
       gegen soziale Regeln; womit sich für unsere jüngste Vergangenheit und
       Gegenwart – die „Digitalisierungsmoderne“ – die Frage ergibt: Wie lässt
       sich, angesichts des seit den 1960er Jahren anhaltenden Abbaus von
       Vorschriften zum formellen Verhalten – also, dass einen sogar schon ein
       Möbelhaus duzt – überhaupt noch ein gesellschaftlicher Fauxpas begehen?
       
       ## Nehmen die Boomer die Herausforderung an?
       
       Der [3][Streit um „Gendersprache“] ist eben auch ein schambesetzter, in dem
       die einen über ein neues Vokabular verfügen und es regelhaft verbindlich
       machen wollen, während die anderen, noch dazu biografisch durch den
       jahrzehntelangen Informalisierungstrend geprägt („Ok Boomer“), sich auf dem
       neuen Terrain gar nicht anders als erst mal ungeschickt verhalten können
       und auch wollen; und die Frage, die sie sich stellen müssen, ist, ob sie
       ihre eigene Ungeschicklichkeit in einer deutsch-romantischen Tradition
       affirmativ aufwerten wollen (und damit immer ein wenig wie Friedrich Merz
       aussehen) oder die Herausforderung annehmen können.
       
       Möglich ist, dass in den nächsten Jahren ein Einigungsprozess ablaufen
       wird, politisch symbolisiert und vorangebracht von Schwarz-Grün, der eine
       neue demokratische Normalsprache hervorbringt, die dann irgendwann alle
       undiskriminiert, unbeschämt und geschickt benutzen können.
       
       Eine Anmerkung zum Schluss. Für diese Rezension legitimiert bin ich nicht
       durch ein, wenn auch mit Bestnote abgeschlossenes Germanistikstudium, denn
       die bekamen in nicht nur schlechten vergangenen Zeiten am Ende eines
       20-semestrigen Magisterstudiums alle, die sich nicht vollkommen ungeschickt
       anstellten. Nein, als ich dieses Buch in die Hand bekam, fiel mir der
       verträumte Grundschüler ein, der mit Turnbeutel in der einen und der von
       der Mutter zur Entsorgung übergebenen Mülltüte in der anderen Hand
       frühmorgens die Wohnung verlässt und dann beim Turnunterricht aus der
       Mülltüte seine Turnschuhe ziehen will – und beschämt ist. Wie tröstend ist
       es da, dass Breuer Adalbert Stifters Schilderung der Ungeschicklichkeiten
       eines kleinen Theodors anführt, der „sich zum Spazierengehen seine Kappe
       ausbürstete, und dann die Kappe niederlegte und mit der Bürste fort ging“.
       
       Das Ungeschick zu überwinden, muss nicht heißen, es aus dem menschlichen
       Möglichkeitsraum auszuschließen. Wer stolpert, steht eben auch „mit dem
       einen Bein in der Zukunft“: Das Stolpern ist blöd, aber es ist auch die
       ungeschickt wandelnde Hoffnung, dass nicht immer nur die ans Ziel kommen,
       die den geraden Weg gehen.
       
       27 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /SPD-Debatte-zu-Identitaetspolitik/!5753032
   DIR [2] https://www.waz.de/politik/spd-politiker-wolfgang-thierse-war-gern-ossi-baer-id7047527.html
   DIR [3] /SPD-Debatte-um-Diversitaet/!5750919
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
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