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       # taz.de -- Junge Menschen in der Coronakrise: „Die Kinder nicht ewig einsperren“
       
       > In der Debatte über Grundrechte kommen Kinder und Jugendliche kaum vor.
       > Psychologin Alexandra Langmeyer sagt, wie Jüngere die Coronakrise
       > erleben.
       
   IMG Bild: Bewegung hilft auch bei Kindern gegen psychische und physische Belastungen
       
       taz: Frau Langmeyer, im ersten Lockdown hat jedes vierte Kind unter
       Einsamkeit gelitten, wie Sie in einer Studie ermittelt haben. Wie ist die
       Situation heute? 
       
       Alexandra Langmeyer: Leider nicht besser. Viele Wissenschaftlerinnen und
       Wissenschaftler haben zu Beginn der Pandemie gedacht, dass sich die Kinder
       gut an die Veränderungen anpassen würden. Das ist nicht eingetreten, wie
       zum Beispiel die Copsy-Studie oder auch internationale Studien zeigen.
       
       Zwar sind heute die Kontaktbeschränkungen nicht mehr so strikt wie vor
       einem Jahr, und Kinder dürfen auch wieder auf Spielplätze. Dennoch sehen
       wir sogar einen verstärkten Anstieg bei Verhaltensproblemen seitens der
       Kinder. Das hat mich, ehrlich gesagt, überrascht, dass sich das
       eingeschränkte soziale Leben so stark auf die Psyche der Kinder auswirkt.
       Das Thema Einsamkeit ist wie vor einem Jahr ein großes Problem.
       
       Die Bundesnotbremse, die seit Samstag gilt, macht es nicht unbedingt
       besser, oder? Kitas und Schulen müssen [1][bei der Inzidenz 165 schließen],
       Sport dürfen Kinder und Jugendliche nur mehr eingeschränkt machen. 
       
       Ich würde es so formulieren: Es war vorher schon schlimm – und die
       Bundesnotbremse hat die Situation nicht grundlegend geändert. Vielerorts
       sind Schülerinnen und Schüler jetzt wieder im Distanzunterricht. Schule als
       Ort der sozialen Begegnung findet damit nicht statt. Beim Sport ist es
       ähnlich. Ich begrüße aber, dass in der Bundesnotbremse Sport für Kinder bis
       14 Jahren erlaubt ist.
       
       Sportverbände schlagen dennoch Alarm, dass sich die Kinder seit einem Jahr
       zu wenig bewegen. Zu Recht? 
       
       Ich halte die fehlende Bewegung der Kinder für sehr bedenklich. Nicht nur,
       weil man beim Sport auch Freunde trifft und dies aus sozialen Gründen
       wichtig wäre. Sport schützt Kinder auch vor psychischen Belastungen wie
       depressiven Verstimmungen, Ängstlichkeit oder eben Einsamkeit. Auch deshalb
       ist es für Kinder superwichtig, sich zu bewegen.
       
       Das ist aber in dem vergangenen Jahr weitgehend weggefallen. Die Kinder
       hocken mehr zu Hause rum. Der Weg zur Schule fällt weg, Sportunterricht
       sowieso und großteils auch der Vereinssport. Mehrere Studien belegen, dass
       Kinder an Gewicht zugelegt haben im vergangenen Jahr. Deshalb wäre es
       wichtig, Kinder jetzt im Sommer viel zum Sport draußen zu bewegen.
       
       Nicht alle gesellschaftlichen Gruppen sind in der Pandemie gleich sichtbar.
       Manche haben wie soeben die [2][Künstler:innen medienwirksam] auf ihre
       Bedürfnisse aufmerksam machen können. Haben wir Kinder und Jugendliche aus
       dem Blick verloren? 
       
       Zu Beginn der Pandemie waren sie ganz aus dem Blick. Das war auch der
       Grund, warum wir die Studie „Kind sein in Zeiten von Corona“ durchgeführt
       haben. Alle haben auf die Unternehmen geguckt und auf das
       Infektionsgeschehen. Wie es den Kindern geht, war da erst mal kein Thema.
       
       Das hat sich während des zweiten Lockdowns geändert, auch weil die Familien
       lauter geworden sind und sich auch die Familienministerin für die Belange
       der Familien und Kinder eingesetzt hat. Momentan ist es wieder ruhiger
       geworden um Kinder und ihre Bedürfnisse. Vielleicht, weil Eltern mit den
       Nerven und ihrer Energie am Ende sind – übrigens selbst die aus besser
       gestellten Verhältnissen, die im ersten Lockdown noch ganz positiv
       eingestellt waren.
       
       Momentan dreht sich die Debatte sehr stark um die Wiedererlangung
       individueller Freiheitsrechte. Auf dem [3][Impfgipfel am Montag] wurde in
       Aussicht gestellt, vollständig Geimpften ihre Grundrechte zurückzugeben.
       Für Kinder und Jugendliche ist das jedoch in weiter Ferne. 
       
       Kinderrechte kommen in den aktuellen Debatten kaum vor. Eigentlich schreibt
       uns die UN-Charta vor, Kinderrechte bevorzugt in den Blick zu nehmen.
       Übrigens auch für den Fall, dass wir die Kinderrechte immer [4][noch nicht
       im Grundgesetz verankert] haben. Dass die Pandemie auch nach dem Sommer für
       Kitas und Schulen noch lange nicht vorbei ist, weil Kinder nach jetzigem
       Stand nicht geimpft werden können, ist aber nirgendwo Thema. Von
       bevorzugter Behandlung von Kindern kann also nicht die Rede sein.
       
       Die Pharmaunternehmen arbeiten nach eigenen Angaben mit Hochdruck an einem
       Impfstoff für Kinder. Wie lässt sich, bis er verfügbar ist, das
       [5][Dilemma] zwischen Gesundheitsschutz und pädagogisch sinnvollen Kita-
       und Schulöffnungen auflösen? 
       
       Das finde ich eine schwierige Entscheidung. Grundsätzlich ist es natürlich
       richtig, auf die Virologinnen und Virologen zu hören. Andererseits können
       wir jetzt nicht bis zum Jahresende die Kinder einsperren, bis ein Impfstoff
       für sie da ist.
       
       Das heißt was? Den Infektionsschutz hintanstellen? 
       
       Ganz hintanstellen natürlich nicht. Aber man muss das gesundheitliche
       Risiko der Kinder abwägen mit dem sozialen Risiko und den psychischen
       Folgen der Betroffenen. Soweit ich das einschätzen kann, verlaufen
       Infektionen bei Kindern, die keine Vorerkrankungen haben, in der Regel ja
       nicht so dramatisch. Spätestens wenn wir nach den Großeltern auch die
       Eltern durchgeimpft haben, sollte man neu überdenken, ob wir die Kinder
       nicht wieder in Kitas und Schulen schicken können.
       
       Angenommen, im Winter ist die Coronapandemie beherrschbar geworden. Ist
       dann für Kinder und Jugendliche wieder alles gut? 
       
       Wir dürfen die Kinder nicht erneut vergessen, wenn die Pandemie vorbei ist.
       Ich habe die große Sorge, dass in den Schulen dann der Wunsch herrscht,
       alles nachzuholen, und dadurch ein enormer Leistungsdruck entsteht.
       
       Wir wissen aus dem ersten Lockdown, dass Eltern gestresst und nicht
       entspannt waren und sich das natürlich auch auf die Kinder auswirkt. Da
       müssen wir vermeiden, dass die Familien aus dem Dauerstress nicht mehr
       rauskommen. Beispielsweise über [6][individuelle Förderung], wie sie der
       Bund angekündigt hat.
       
       Was wissen wir eigentlich über häusliche Gewalt gegen Kinder in der
       Pandemie? 
       
       Dazu gibt es leider keine soliden Daten. Normalerweise sind es ja die
       Schulen, die Meldungen an die Jugendämter machen. Das ist wegen der
       Pandemie im vergangenen Jahr natürlich weniger passiert. Man muss leider
       aber davon ausgehen, dass die Stresssituation zu Hause auch hier zu einer
       hohen Dunkelziffer geführt hat.
       
       27 Apr 2021
       
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