URI: 
       # taz.de -- Geflüchtete in Calais: „Ich habe nichts und niemanden“
       
       > Im Oktober 2016 wurde der „Dschungel“ von Calais geräumt. Immer noch
       > hoffen Tausende Geflüchtete auf eine Passage nach England.
       
   IMG Bild: Das Zelt ist alles, was Hassan besitzt. Aus Angst vor britischen Behörden verbirgt er sein Gesicht
       
       Eisig ist der Wind, der über den Kreisverkehr an der Klinik Les Oyats in
       Calais weht. Trostlos wirkt der mehrere hundert Meter große Platz am
       Stadtrand, auf dem nur wenige kahle Bäume stehen – doch trotz der Kälte
       warten hier am vergangenen Samstag mehr als 150 Menschen auf die
       Freiwilligen von Care4Calais.
       
       Wie an vielen anderen Stellen der nordfranzösischen Stadt verteilen Helfer
       der britischen Hilfsorganisation Lebensmittel, heißen Tee, Kleidung,
       Schlafsäcke und Zelte aus weißen Transportern heraus an Geflüchtete. Sie
       leben hier auf einer alten, längst überwucherten Industriebrache.
       
       Fast alle von ihnen sind Männer, viele sind kaum dreißig Jahre alt, manche
       noch Teenager. Nicht wenige haben auch den Winter in diesem Niemandsland
       verbracht. Denn hinter der vermüllten Brache liegt die A16, und die
       Autobahn ist Verheißung. Sie führt zum Hafen von Calais und weiter zum
       [1][Eurotunnel nach Großbritannien] – und jeder hier hofft, bei Stau ein
       Versteck auf oder unter der Ladefläche eines Lkws zu finden, der ihn
       vielleicht ins [2][englische Dover] bringt. Auf die Insel wollen sie alle.
       
       „Wir versuchen jeden Tag, auf einen Lkw zu kommen“, sagt Khan. Seinen
       vollen Namen will er wie die allermeisten nicht in der Zeitung sehen. Auch
       ein Foto ist undenkbar – zu groß ist die Angst, später von britischen
       Behörden identifiziert und zurückgeschickt zu werden. Seit mehr als einem
       Jahr schläft er in einem Zelt hinter dem Kreisverkehr zwischen Gräben und
       großen Betonresten. Auf einen Lkw gekommen sei er schon oft, sagt der
       29-Jährige auf Englisch – doch bei den Grenzkontrollen direkt an der Küste
       hätten ihn Hunde und Wärmebildkameras immer aufgespürt.
       
       ## Angst vor den Taliban, Angst vor der Polizei
       
       Seine Heimat Afghanistan habe er aus Angst vor den Taliban verlassen,
       erzählt er am Feuer vor seinem Zelt, auf dem er am Abend ein Essen für das
       Fastenbrechen im Ramadan kocht. „Aber hier in Europa ist unser Leben auch
       sehr, sehr schlecht“, sagt Khan. „Die französische Polizei kommt jeden
       zweiten Tag und versucht, uns zu vertreiben“, berichtet er. „Sie nehmen uns
       das Essen weg. Die Zelte und Schlafsäcke zerschneiden sie oder werfen sie
       in den Müll.“
       
       Wer nicht schnell genug herauskomme, werde durch die Zeltwand getreten,
       sagt der 19 Jahre alte Rustam, der wenige Meter weiter kampiert. Andere
       klagen über den Einsatz von Pfefferspray und auch von Schlägen. Khan zeigt
       dann zwei unterschiedliche Schuhe, beide für den rechten Fuß. Die linken
       habe ihm ein Polizist der berüchtigten kasernierten Bereitschaftspolizei
       CRS weggenommen – und das witzig gefunden.
       
       Trotzdem will Khan wie fast alle hier weiter versuchen, nach England zu
       kommen. „Ich habe Familie und Freunde in Manchester und Birmingham. Hier in
       Frankreich kenne ich niemanden, kann nicht einmal die Sprache“, erklärt er.
       „Unser Land ist zerstört“, sagt auch ein Kurde aus Syrien, dessen Hose
       zerrissen ist und der trotz der Kälte nur Flipflops trägt. „Ich hoffe, dass
       wir uns in England mit Hilfe von Freunden ein neues Leben aufbauen können.“
       Schließlich gibt es in Großbritannien traditionell weder Meldepflicht noch
       Personalausweise. Angewiesen auf Schwarzarbeit und ohne soziale Absicherung
       können deshalb auch nicht [3][registrierte Geflüchtete] hoffen, unter dem
       Radar der Behörden zu bleiben.
       
       Resigniert und verzweifelt wirkt dagegen Hassan, der sein winziges, nicht
       einmal einen Meter hohes Zelt ein paar hundert Meter weiter aufgeschlagen
       hat. Der 22-Jährige spricht nahezu perfekt Deutsch. Geboren in der
       pakistanischen Grenzregion, habe er die Taliban gefürchtet – und sei
       deshalb schon mit 16 über den Iran, die Türkei und den Balkan nach
       Deutschland geflohen, erzählt der junge Mann, der versucht, sich mit einer
       gespendeten Daunenjacke vor der Kälte zu schützen. „Fast sieben Jahre habe
       ich in Deutschland gelebt.“
       
       ## Zerstörte Hoffnungen auf ein Leben in Deutschland
       
       Seinen Hauptschulabschluss habe er im bayerischen Abensberg bei Regensburg
       gemacht, erzählt Hassan – und schreibt den Ortsnamen auf ein Blatt Papier.
       Nach der Schule hat der schmächtige Mann, der trotz seines Barts eher wie
       ein Junge wirkt, im Gärtnerei- und Landschaftsbau und auf Baustellen
       gearbeitet. Sein Asylantrag aber wurde abgelehnt. „Zwei Mal habe ich die
       Aufforderung bekommen, Deutschland innerhalb von zwei Wochen zu verlassen.“
       Nach Pakistan zurück habe er nicht gekonnt – sein Vater sei 2015, seine
       Mutter vor elf Monaten gestorben, zum Rest seiner Familie gebe es keinen
       Kontakt.
       
       In einer Panikreaktion ist er deshalb vor drei Monaten in Richtung
       Großbritannien aufgebrochen. Jetzt hängt der 22-Jährige, dessen Ausbildung
       die Bundesrepublik finanziert hat, in Calais fest – und wünscht sich nichts
       mehr als eine Rückkehr nach Bayern. Fast flehentlich bittet er um Hilfe:
       „Ich habe keinen Anwalt in Deutschland – und meine Freunde in Abensberg
       haben auch kein Geld, um mir zu helfen. Ich habe nichts und niemanden“,
       sagt Hassan. „Und hier kommt alle zwei Tage die Polizei und nimmt mir das
       Zelt, den Schlafsack, einfach alles weg.“
       
       Hinter der Härte der französischen CRS-Bereitschaftspolizei stehe die
       konservative britische Regierung, sagt Imogen Hardman – die 30-Jährige aus
       Manchester arbeitet für Care4Calais und koordiniert die Hilfe vor Ort.
       Schon vor sechs Jahren, als fast 10.000 Geflüchtete im „Dschungel“ in der
       Nähe auf einer ehemaligen Müllkippe unweit vom Hafen auf eine Chance
       warteten, nach Großbritannien zu gelangen, machte London Druck.
       
       ## London zahlt über 100 Millionen Pfund
       
       Und London zahlte: Für die Sicherung der Grenzanlagen in Frankreich flossen
       seit 2015 mindestens 114 Millionen Pfund, hieß es im Juni 2020 auf eine
       Parlamentsanfrage, mehr als 131 Millionen Euro. Der „Dschungel“ wurde
       daraufhin im Oktober 2016 geräumt, und die Einfahrt zum Eurotunnel im
       Vorort Coquelles erinnert mit meterhohen doppelten Zäunen und Stacheldraht
       an die frühere innerdeutsche Grenze.
       
       Die Geflüchteten aber blieben. Rund 1.000 leben allein in Calais, schätzt
       Imogen Hardman. Allerdings ist deren geballtes Elend jetzt über die knapp
       73.000 Einwohner:innen zählende Stadt verteilt und damit weniger
       deutlich sichtbar als im „Dschungel“. Aber selbst in Sichtweite des
       beeindruckenden Rathauses mit seinem 78 Meter hohen Glockenturm leben
       Dutzende Geflüchtete am Quai de la Tamise – in Zelten dicht an dicht unter
       einer Brücke.
       
       Andere schlafen hinter einem ehemaligen Supermarkt. Hunderte weitere leben
       in einer Zeltstadt in Grande-Synthe, einem Vorort von Dünkirchen, das rund
       40 Kilometer entfernt liegt. Auf einer für Stromleitungen geschlagenen
       Lichtung im Wald sind auch Frauen und Kinder zu sehen, die sonst oft von
       Hilfsorganisationen wie dem Refugee Women’s Centre aufgefangen werden.
       Dabei fehlt es auch in Grande-Synthe an allem. Toiletten gibt es nicht,
       Wasser erst in einem Kilometer Entfernung – ein Polizeiposten wacht
       darüber, dass Hilfsorganisationen die Geflüchteten nicht direkt erreichen
       können.
       
       ## Auf Booten, Kajaks, Surfbrettern
       
       Was selbst Familien hier hält, ist die Hoffnung auf eine Überfahrt per
       Boot. Schlepper würden die ab 3.000 Euro pro Person anbieten, erzählen
       Geflüchtete. Verzweifelte versuchen, das gerade einmal 32 Kilometer
       entfernte Dover in Kajaks, auf Surfbrettern oder gar nur mit einer
       Schwimmweste zu erreichen – dabei gilt die von 400 Schiffen täglich
       genutzte Meerenge als meistbefahrene Hochsee-Wasserstraße Europas.
       
       Hilfsorganisationen wissen von mindestens fünf Menschen, die allein 2020
       bei der Überfahrt ertrunken sind – und zynisch benutzt Großbritanniens
       Innenministerin Priti Patel die Toten als Begründung für eine Verschärfung
       des Asylrechts. „Während Menschen sterben, haben wir eine Verantwortung zu
       handeln“, erklärte die Hardlinerin, deren indischstämmige Eltern in den
       Sechzigern selbst aus der einstigen britischen Kolonie Uganda eingewandert
       sind, erst im März.
       
       Wer „illegal“ einreist, wird künftig selbst bei anerkanntem Asylrecht keine
       dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung mehr bekommen. Und schon im Sommer 2020
       dachte Patel darüber nach, im Ärmelkanal Aufgegriffene direkt nach
       Frankreich zurückbringen zu lassen. Im Gegenzug verlange Paris dafür
       weitere 33 Millionen Euro, berichtete der Sunday Telegraph.
       
       ## Der Brexit macht das Helfen schwer
       
       Die Zahl der Geflüchteten, die an der nordfranzösischen Küste einen Weg
       nach Großbritannien suchen, dürfte also nicht sinken. Organisationen wie
       Care4Calais versuchen, die Menschen weiter mit dem Notwendigsten zu
       versorgen – und brauchen selbst Hilfe. „Wegen Corona kommen weniger
       freiwillige Helfer aus Großbritannien“, berichten Imogen Hardman, „und
       durch die Brexit-Bürokratie viel weniger Hilfsgüter.“ Ihr Kollege Matt
       Cowling nickt.
       
       Eingesprungen ist deshalb die deutsche Initiative Flüchtlinge Willkommen in
       Düsseldorf. Schon zum zweiten Mal hat das Netzwerk, das in seinem
       Düsseldorfer Welcome Center Rechtsberatung bietet und bei der Arbeits- und
       Wohnungssuche hilft, zu Spenden aufgerufen. Innerhalb weniger Wochen kamen
       vier Tonnen Hilfsgüter zusammen, darunter hunderte Pakete mit lang
       haltbaren Lebensmitteln wie Reis, Nudeln, Öl und Tee, aber auch Zelte,
       Schlafsäcke und Isomatten.
       
       Nach Calais gefahren hat die Spenden Organisator Benedikt Schmitz.
       Natürlich müssten auch Fluchtursachen wie Waffenexporte oder Ausbeutung
       bekämpft werden, sagt er am vergangenen Samstag auf der Autobahn am Steuer
       eines Transporters. „Eine Frage der Menschlichkeit“ sei aber auch die
       unmittelbare Hilfe, findet der 54-Jährige. „Vor unserer Haustür, mitten in
       Europa in Calais, wird Menschen ein sicherer Schlafplatz verweigert und das
       Essen weggenommen“, sagt Schmitz. „Wenn ich dann das Gerede von
       ‚europäischen Werten‘ höre, wird mir schlecht.“
       
       29 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Flucht-nach-Grossbritannien/!5711448
   DIR [2] /Vor-der-Abstimmung-ueber-den-Brexit/!5289304
   DIR [3] /Fluechtlingscamps-in-Frankreich/!5636738
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Wyputta
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Schwerpunkt Frankreich
   DIR Großbritannien
   DIR Calais
   DIR Geflüchtete
   DIR Podcast „Vorgelesen“
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Schwerpunkt Brexit
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Schwerpunkt Frankreich
   DIR Flüchtlinge
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Geflüchtete zwischen Calais und Dover: Tragödie im Ärmelkanal
       
       Seit Dienstagabend wurden über 400 Menschen aus Seenot gerettet, ein Mann
       ertrank. Im Winter wird die Route über den Meeresarm noch gefährlicher.
       
   DIR Flüchtlingspolitik in Großbritannien: Antiterrorkämpfer am Ärmelkanal
       
       Ein Profi in Terrorbekämpfung wird Chef für „Einwanderungsvollstreckung“.
       Hintergrund: Rekordzahlen an Geflüchteten.
       
   DIR Unabhängigkeitsbewegung in Schottland: Mit dem Brexit im Rücken zum Erfolg
       
       Schottland wählt – erstmals seit dem Austritt aus der EU. Befürworter der
       Unabhängigkeit wittern eine Chance, sich endlich von London loszusagen.
       
   DIR Flucht nach Großbritannien: Über den Ärmelkanal
       
       Migrant*innen und Flüchtlinge kommen zunehmend per Schlauchboot aus
       Frankreich nach Großbritannien. Dieses Jahr waren es bereits über 4.000.
       
   DIR Geflüchtete in Frankreich: Der „Dschungel“ wird zur Geisterstadt
       
       Im Flüchtlingslager bei Calais geht das Licht aus. Fast die Hälfte der
       Bewohner ist auf dem Weg in Aufnahme- Zentren. Was wird aus den anderen?
       
   DIR Inoffizielle Flüchtlingslager in Calais: Der „Dschungel“ in der Industrieruine
       
       Die Flüchtlinge kommen aus Syrien, Eritrea oder Südsudan und wollen nach
       England. In Calais ist Endstation. Dort werden sie sich selbst überlassen.