URI: 
       # taz.de -- Mietendeckel-Aus und Mietnachzahlungen: Die menschliche Gesellschaft
       
       > Der Berliner Mietendeckel wurde gekippt. Der Senat hat deshalb
       > finanzielle Hilfen für Mietnachzahlung beschlossen. Warum das richtig
       > ist.
       
   IMG Bild: Protest gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Mietendeckel am 15. April
       
       Ginge es nach dem Aus für den Mietendeckel um pure Logik und
       Eigenverantwortung, dann könnte sich der rot-rot-grüne Senat die am
       Dienstag beschlossene, vorerst 10 Millionen Euro schwere
       „Sicher-wohnen-Hilfe“ sparen. Diese Darlehen – aus denen auch
       rückzahlungsfreie Zuschüsse werden können –, wären nämlich nicht nötig,
       wenn alle, die nun die geminderte Miete nachzahlen müssen, sich an die
       Mahnung von Senat und Mieterschützern gehalten hätten: Das eingesparte Geld
       vorerst auf keinen Fall ausgeben, sondern bis zu einer abschließenden
       Klärung am Verfassungsgericht auf die Seite legen.
       
       Opposition und sonstige Kritiker liegen nämlich falsch, wenn sie dem Senat
       vorhalten, er habe die Mieter in die Irre geführt und sei deshalb in der
       Pflicht zu helfen. Denn mantramäßig haben Koalitionspolitiker wiederholt,
       man betrete mit dem Mietendeckel juristisches Neuland, man könne nichts
       garantieren und man solle deshalb vorsorgen.
       
       Das haben nach Schätzung des Senats aber so viele Haushalte nicht getan,
       dass nun nach selbiger Schätzung rund 40.000 Mieter Probleme haben, die
       geminderte Miete zurückzahlen. Laut Bausenator Sebastian Scheel von der
       Linkspartei liegt das daran, dass mancher zwar nicht wohngeldberechtigt
       ist, sich aber die Miete „vom Kühlschrank abgespart und den nun wieder
       gefüllt hatte“. Fällig soll diese Nachzahlung auch ohne besondere
       Aufforderung bereits mit der Maimiete sein, auch wenn das Urteil des
       Bundesverfassungsgerichts erst neun Tage alt ist.
       
       In einem marktradikalen Land, im oft zitierten Manchesterkapitalismus,
       würde nun gelten: selbst schuld, dann seht mal zu, wie ihr aus der Misere
       wieder rauskommt. Und natürlich wirkt das Ganze auch ein bisschen
       ungerecht: Wer sich an die Sparmahnung gehalten hat, sich nicht, um in
       Scheels Bild zu bleiben, den Kühlschrank gefüllt hat und nun aus eigener
       Kraft nachzahlen kann, mag sich fragen, warum andere fürs Geldausgeben auch
       noch belohnt werden.
       
       ## Gute Sozialpolitik fragt nicht nach Schuld
       
       Dieser Konflikt ist uralt: Schon in der Bibel, im Gleichnis vom verlorenen
       Sohn, fragt sich der daheimgebliebene arbeitsame Sohn, warum der Vater
       seinem verarmt heimkehrenden Bruder, der sich abgewandt und alles verprasst
       hat, nun auch noch ein Festmahl bereitet, während er nie auch nur eine
       kleine Feier spendiert bekam.
       
       Gute Sozialpolitik aber fragt nicht nach Schuld. Hilfsleistungen, Wohngeld,
       diverse sonstige Unterstützungsleistungen bekommt grundsätzlich nicht nur,
       wer unverschuldet und nur aus Pech und ungünstiger Umstände wegen Hilfe
       braucht. Einschränkungen gibt es, aber eher geringe – etwa dass jemand, der
       ohne wichtigen Grund seinen Job kündigt, erst nach drei Monaten
       Arbeitslosengeld bekommt. Ob einer in der Schule oder in der Ausbildung
       fleißig war oder nicht, und wie weit jemand sein Schicksal in der Hand
       hatte, ist nachrangig.
       
       Das Ganze ist ja auch alternativlos, wenn man Menschen nicht dem Untergang
       preisgeben will. Es zeichnet eine menschliche Gesellschaft aus,
       bedingungslos zu helfen. Ein großes Wort dafür ist Nächstenliebe oder
       Barmherzigkeit. Welche Stadt könnte das mehr beherzigen als die, in der
       diese Haltung mit ihrem französischen Namen – Charité – seit fast 300
       Jahren mittendrin fest in Stein gemauert ist.
       
       24 Apr 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Alberti
       
       ## TAGS
       
   DIR Mietendeckel
   DIR Mieten
   DIR Mietenprotest
   DIR Mieten
   DIR Mieten
   DIR Kolumne Bei aller Liebe
   DIR Mietendeckel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Profit-Wahn von Vermieter*innen: Die Trickkiste des Kapitalismus
       
       Wohnraum vermieten ist vor allem eins: eine Einladung zur Profitproduktion.
       Warum der Mietenwahn in Städten eine politische Intervention erfordert.
       
   DIR Nach dem BVerfG-Urteil zum Mietendeckel: „Vom Bundesdeckel rate ich ab“
       
       Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Berliner Mietendeckel ist
       nicht überzeugend, findet der Rechtswissenschaftler Florian Rödl.
       
   DIR Seltene Solidarität einer Vermieterin: Medaillen an der Seele
       
       Es gibt sie noch, die guten Menschen. Nach dem Aus für den Mietendeckel
       verzichtet die Vermieterin unserer Autorin auf die Rückzahlung der
       Differenz.
       
   DIR Senator kündigt „Sicher-wohnen-Hilfe“ an: „Wir lassen niemanden im Stich“
       
       Die rot-rot-grüne Landesregierung beschließt nach dem Mietendeckel-Aus am
       Bundesverfassungericht, bei Nachzahlungsproblemen mit Darlehen zu helfen.