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       # taz.de -- Polizeigewalt in den USA: Risse in der blauen Mauer
       
       > Ein Jahr nach George Floyds Tod steht das Minneapolis Police Department
       > unter Druck. Und in Washington ist ein neues Polizeigesetz in Arbeit.
       
   IMG Bild: Cops in Kampfmontur: Es gibt Polizisten, die würden auch den Einsatz von Tränengas einschränken
       
       NEW YORK taz | Die „blaue Mauer“, die gewöhnlich nach polizeilichen
       Gewalttaten in den USA dicht geschlossen ist, hat Risse. Polizisten von der
       Spitze der Hierarchie – Chefs und Ausbilder – haben in Minneapolis als
       Zeugen gegen einen aus ihren Reihen ausgesagt. Und nachdem Derek Chauvin
       des Mordes und Totschlags an George Floyd für [1][schuldig] befunden worden
       ist, reden manche von ihnen jetzt über Reformen im System.
       
       Sie wollen Würgegriffe und andere lebensgefährliche Techniken verbieten,
       wollen den Einsatz von Tränengas einschränken und denken sogar über den
       punktuellen Verzicht auf das Schusswaffentragen nach. Der Präsident
       unterstützt das Ansinnen. „Niemand sollte über dem Gesetz stehen“, hat Joe
       Biden gesagt. An seinem 91. Tag im Amt, kurz nach der Veröffentlichung der
       Entscheidung der Geschworenen, kündigte er an, dass er die
       „Wahrscheinlichkeit neuer Tragödien“ reduzieren will.
       
       Die „Blauen“ sind berüchtigt für ihr oft unverhältnismäßig brutales
       Vorgehen. Bis zum 23. April diesen Jahres haben Polizisten in den USA
       [2][bereits 319 Menschen getötet]. Besonders oft und hart trifft ihre
       Gewalt Angehörige der Minderheiten. 28 Prozent der Opfer sind
       Afroamerikaner, obwohl sie nur 13 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.
       Bürgerrechtler diskutieren seit Jahren über die Notwendigkeit von Reformen.
       Ihre Modelle reichen von der Reduzierung der Budgets über die Umverteilung
       eines Teils der Polizeiaufgaben an soziale und psychiatrische Dienste und
       die Abschaffung von polizeilichen Verkehrskontrollen, die für
       Afroamerikaner tödlich sein können, bis hin zu der kompletten Abschaffung
       der Polizei.
       
       ## Das Police Department zerlegen
       
       Nach den meisten tödlichen Polizeieinsätzen der Vergangenheit kam es nicht
       einmal zu Ermittlungen gegen die Täter in Uniform, geschweige denn zu
       Anklagen und Verurteilungen. In diese Gemengelage hat George Floyds Tod –
       vor allem das millionenfach gespielte Video von dem polizeilichen Mord –
       Bewegung gebracht. Knapp zwei Wochen nach seinem Tod unter einem
       Polizistenknie kam die Mehrheit der Städträte von Minneapolis in den
       Powderhorn Park und versprach Demonstranten, dass sie das Minneapolis
       Police Department „zerlegen“ wollten.
       
       Bislang haben die Ratsleute ihr Vorhaben nicht umgesetzt. Unter anderem
       stemmten sich die Minderheit im Stadtrat und der Bürgermeister der Stadt,
       Jacob Frey, dagegen. Aber die Absicht, das MDP finanziell auszuhungern, zu
       zerlegen oder zu ersetzen und – vor allen Dingen – es unter eine zivile
       Aufsicht zu stellen, bestimmt weiterhin die Debatte in Minneapolis. Statt
       der großen Veränderungen haben der demokratische Bürgermeister und der
       erste afroamerikanische Polizeichef, Medaria Arradondo, ein paar kleinere
       Schritte getan: Sie haben das Training im Militärstil abgeschafft, haben
       Geld aus dem Polizeietat an psychiatrische und soziale Dienste ausgelagert
       und sie ermuntern Polizisten, selbst in der Stadt zu wohnen, in der sie
       arbeiten. „Farbkleckse auf der Wand“, sagt der polizeikritische Ratsherr
       Philippe Cunningham. „Zahnlos“, nennt es die Chefin der Bürgerrechtsgruppe
       ACLU in Minnesota, Julie Decker.
       
       Am Mittwoch, einen Tag nach dem Mordurteil der Geschworenen in Minneapolis,
       bekamen die Polizeikritiker mächtige Unterstützung aus Washington. Der neue
       Justizminister Merrick Garland kündigte Untersuchungen über das MPD an.
       Unter anderem will das Justizministerium sich bei seinen ungewöhnlichen
       Untersuchungen mit „exzessiver Gewaltanwendung“ – auch gegen Demonstranten
       – und mit „rechtswidrigen“ Regeln und rechtswidriger Ausbildung in
       Minneapolis befassen. Der Minister forderte die örtliche Bevölkerung auf,
       ihn bei der Arbeit nach Kräften zu unterstützen.
       
       ## Mehr einheitliche Regeln
       
       Parallel dazu ist in Washington ein Gesetz in Arbeit, das im Falle seiner
       Annahme strengere nationale Regeln für die Polizeiarbeit definieren würde
       als je zuvor. Die 18.000 Polizeibehörden in den USA – von denen manche nur
       einen, andere Zigtausende Mitarbeiter haben – unterstehen nicht der
       Bundesregierung. Sie sind autonom.Welches Personal sie einstellen, wie
       lange sie es ausbilden (zwischen drei und sechs Monaten), welche Waffen
       (auch aus Militärbeständen) sie ihm geben und welche Methoden sie
       tolerieren und ermuntern, ist Sache der Kommunen und der Bundesstaaten. All
       das würde das „George-Floyd-Gesetz“ vereinheitlichen.
       
       Das Gesetz würde die „No-knock“-Hausdurchsuchung bei Drogenverdacht
       verbieten, bei denen die Polizei nicht einmal anklopfen muss, bevor sie
       einbricht (bei einer solchen No-knock-Aktion in Louisville, Kentucky, wurde
       im März vergangenen Jahres die schlafende 26-jährige Afroamerikanerin
       [3][Breonna Taylor] in ihrem Bett erschossen). Es würde Anreize schaffen,
       damit Polizisten die Gewalttätigkeiten ihrer Kollegen melden. Es würde für
       einen nationalen Datenabgleich sorgen, der gewalttätige Polizisten erfasst,
       die gegenwärtig nach einer Entlassung problemlos eine Neuanstellung im
       Nachbarort oder Nachbarbundesstaat finden können. Vor allen Dingen aber
       würde es die Immunität abschaffen, die Polizisten vor Ermittlungen schützt.
       
       Das Gesetz stammt von Demokraten, die es bereits im vergangenen Sommer
       eingebracht haben. Bislang ist es nicht über das mehrheitlich demokratische
       Repräsentantenhaus hinausgekommen. Von republikanischer Seite gibt es
       Widerstände – insbesondere gegen die Abschaffung der Immunität von
       Polizisten.
       
       Aber selbst bei Republikanern ist in diesen Tagen eine gewisse
       Aufbruchstimmung spürbar. „Es ist eine gute Sache, dass wir uns in einer
       Polizeireform engagieren“, sagt der rechte Senator aus South Carolina,
       Lindsey Graham.
       
       ## Mindestens neun Republikaner müssen sich drauf einlassen
       
       Sein Kollege Tim Scott, der einzige afroamerikanische Senator der
       Republikaner, hat bereits im vergangenen Jahr eine abgemilderte Version
       eines Polizeigesetzes vorgelegt. Seit mehreren Wochen verhandelt er jetzt
       mit Demokraten über einen Kompromiss. Während viele Republikaner jede
       Aufhebung der polizeilichen Immunität ablehnen, plädiert Scott dafür, dass
       Bürger statt der individuellen Polizisten immerhin die jeweiligen
       Polizeibehörden zur Rechenschaft ziehen können. Um im Senat angenommen zu
       werden, bräuchte das George-Floyd-Gesetz mindestens 60 Stimmen – das
       bedeutet, mindestens neun Senatoren müssen sich darauf einlassen.
       
       Polizeireformen in den USA sind schwerfällig und langsam. Nachdem im Sommer
       2017 ein weißer Polizist in Ferguson den unbewaffneten 18-jährigen
       Afroamerikaner [4][Mike Brown] auf offener Straße erschoss, kam es zu
       wochenlangen Protesten in der Kleinstadt in Missouri. Sieben Jahre später
       sind in der Region – inklusive in der benachbarten Großstadt St. Louis –
       mehrere neue schwarze Politiker und Polizeiverantwortliche im Amt. Aber
       Antonio French, der 2014 in der Protestbewegung aktiv war, beschreibt sein
       Dilemma als schwarzer Mann immer noch so: „Entweder habe ich eine
       aggressive Polizei, die mich in einer Routineverkehrskontrolle erschießt,
       oder überhaupt keinen Polizeischutz“.
       
       Während der Ausgang des Parteienstreits in Washington um ein nationales
       Polizeigesetz offen ist, haben Hunderte von Polizeichefs und Bürgermeistern
       quer durch die USA seit George Floyds Tod bereits lokale Reformen
       durchgesetzt. Besonders experimentierfreudig sind dabei zwei kleine
       Universitätsstädte.
       
       ## Gros der Arbeit liegt noch vor ihnen
       
       Der Gemeinderat von Ithaka im Bundesstaat New York hat nach zweieinhalb
       Stunden Beratung im März eine unbewaffnete Behörde für „Gemeindelösungen
       und öffentliche Sicherheit“ geschaffen. Berkeley in Kalifornien betrachtet
       polizeiliche Verkehrskontrollen wegen fehlender Bremslichter oder nicht
       aktueller Kennzeichen nicht mehr als Priorität.
       
       Langsam und ungleich, wie die gegenwärtigen Reformen laufen, kommt der
       Beifall dazu vor allem aus den Kreisen der Polizei und der gewählten
       Politiker. Für die Grassroots-Aktivisten und Bürgerrechtler, die seit
       Jahren grundlegende Veränderungen verlangen und im zurückliegenden Sommer
       zu Millionen auf die Straße gegangen sind, ist klar, dass das Gros der
       Arbeit noch vor ihnen liegt.
       
       Der New Yorker Polizeisoziologe Alex Vitale beschreibt den
       unterschiedlichen Umgang der beiden Gruppen mit dem Urteil von Minneapolis
       so: „Die einen betrachten es als Schritt zur Wiederherstellung des
       Vertrauens in die Polizei. Die anderen sehen darin eine Anerkennung der
       Macht ihrer Bewegung und zugleich die Bereitschaft des Systems, einen
       Polizisten zu opfern, um die Institution zu retten.“
       
       24 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Urteil-im-Fall-George-Floyd/!5768113
   DIR [2] https://mappingpoliceviolence.org
   DIR [3] /Rassistische-Polizeigewalt-in-den-USA/!5716383
   DIR [4] /Polizeigewalt-in-Ferguson/!5221683
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dorothea Hahn
       
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