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       # taz.de -- Neue Impf-Priorisierung gefordert: Impfoffensive für Arme
       
       > In Hamburg fordert ein linkes Gesundheitszentrum eine
       > Corona-Impfoffensive für die sozial benachteiligte Veddel. Aber die
       > Sozialbehörde winkt ab.
       
   IMG Bild: Gesundheit als politische Frage: die Poliklinik auf der Veddel fordert schnelleres Impfen für Arme
       
       Hamburg taz | Kürzlich hat jemand Corona mit Tuberkulose verglichen: eine
       Krankheit, die die Armen mit anderer Wucht trifft als die Reichen.
       Inzwischen ist der Befund auch wissenschaftlich belegt: Im Dezember und
       Januar lag die Covid-19-Sterblichkeit in stark benachteiligten Regionen um
       rund 50 bis 70 Prozent höher als in Regionen mit geringer Benachteiligung,
       so hat es das Robert-Koch-Institut festgestellt. Im Dezember vergangenen
       Jahres hat die Poliklinik auf der Hamburger Elbinsel Veddel zum ersten Mal
       gefordert, dass dort die Menschen bevorzugt geimpft werden müssten.
       
       Es ist alles anderes als ein Zufall, dass der Vorschlag von dort kam: Die
       Poliklinik ist ein Stadtteilgesundheitszentrum, das Gesundheitsversorgung
       auch als politisch-soziale Frage versteht. Die Mitarbeiter:innen sind
       ganz bewusst dorthin gegangen, wo die medizinische Versorgung prekär ist:
       Auf der Veddel leben Menschen aus 60 Nationen, die allerwenigsten von ihnen
       sind Privatpatient:innen. Derzeit gibt es ganze zwei Hausarztpraxen, die
       beide zur Poliklinik gehören, für die mehr als 4.000 Veddeler:innen.
       
       Warum die in der Pandemie mehrfach benachteiligt sind, hat die Poliklinik
       in einem Problemaufriss beschrieben: die Veddel liegt nach einer Auswertung
       des NDR bei den Infektionszahlen weit oben im Vergleich der Bezirke; die
       Krankheitsverläufe sind häufig schwer.
       
       Es ist ein Teufelskreis: Wer auf der Veddel lebt, dessen
       Gesundheitszustand ist ohnehin schon schlechter als in besser gestellten
       Vierteln. Umso schlechter gewappnet ist man für eine Corona-Erkrankung. Der
       man zugleich aber schlechter aus dem Weg gehen kann: kaum Möglichkeiten zum
       Homeoffice, Abhängigkeit vom öffentlichen Nahverkehr, enge
       Wohnverhältnisse, die konsequente Quarantäne nur begrenzt erlauben. Und die
       beiden Hausarztpraxen verfügen in der zweiten hausärztlichen Impfwoche laut
       Poliklinik über gerade mal zwölf Impfdosen.
       
       Für Jonas Fiedler, Arzt an der Poliklinik, „brennt es“. Deshalb fordert das
       Klinikkollektiv eine Hochstufung der Veddeler:innen in der
       Impfpriorisierung, ein temporäres Impfzentrum, für das wöchentlich rund 400
       Impfdosen zur Verfügung gestellt werden, und eine Aufhebung der
       Impfkategorien innerhalb der Veddel. Wichtig ist ihm dabei, die Kriterien
       Alter und soziale Benachteiligung nicht gegeneinander auszuspielen: „Wir
       wollen nicht sagen, was schwerer wiegt: Armut oder Alter.“ Er will auch
       keine konkrete Impfkategorie benennen. Aber: „Armut ist ein Risikofaktor,
       auch für schwere Verläufe, und das muss Berücksichtigung finden im
       Verteilen von Impfdosen.“
       
       Die Politik in Hamburg hat die Forderung aufgegriffen – genauer, die
       Opposition. Der Linken-Abgeordnete Deniz Celik hat am Mittwoch einen Antrag
       in die Bürgerschaft eingebracht, der unter der Überschrift „Impfoffensive:
       Hamburgs benachteiligte Stadtteile verstärkt schützen“ genau das verlangt,
       was die Poliklinik vorgeschlagen hat. Zur Veddel hinzugekommen sind drei
       weitere sozial benachteiligte Viertel, auch das hatte die Poliklinik schon
       angeregt.
       
       Der Senat hat den Antrag abgelehnt. Am Dienstag hatte die Pressestelle der
       Sozialbehörde auf Anfrage der taz, wie sie zum Vorschlag der Poliklinik
       stehe, bereits Folgendes geantwortet: „Wir setzen die Impfverordnung des
       Bundes um; eine prioritäre Impfung eines Stadtteiles ist nicht vorgesehen.
       Die bestehende Priorisierung ist aufgrund des knappen Impfstoffes derzeit
       nach wie vor erforderlich.“
       
       An dieser Stelle wird es natürlich interessant. Gibt es einen rechtlichen
       Spielraum für die Stadt? Wenig überraschend: Die Antworten variieren. Die
       Poliklinik verweist auf Grenzregionen im Saarland und in Bayern, wo man
       wegen hoher Inzidenzzahlen zusätzliche Impfdosen erhalten habe. Fragt man
       den Hamburger Fachanwalt für Medizinrecht, Oliver Tolmein, so hält er es
       für „sinnvoll“, soziale Kriterien bei der Impfpriorisierung einzubeziehen.
       Ansatzweise geschehe das auch, wenn bei der hohen Priorität auf
       Obdachlosenunterkünfte und Flüchtlingseinrichtungen oder Frauenhäuser
       verwiesen werde.
       
       Weiter auslegbar sei das Kriterium allerdings erst bei der letzten
       Priorisierungsstufe, der „erhöhten Priorität“. Dort würden auch Personen
       berücksichtigt, bei denen „aufgrund ihrer Arbeits- oder Lebensumstände ein
       deutlich erhöhtes Risiko einer Infektion“ bestehe. „Hier kann der Hamburger
       Senat aktiv werden und konkretisieren, dass damit auch beispielsweise die
       Situation in sozialen Brennpunkten umfasst ist“, sagt Tolmein.
       
       ## Impfoffensive nach sozialen Kriterien
       
       Glaubt man dagegen Deniz Celik, dem gesundheitspolitischen Sprecher der
       Hamburger Linkspartei, wäre eine Impfoffensive nach sozialen Kriterien
       schon jetzt machbar. Dazu zitiert er die Impfverordnung, die besagt, dass
       von der Reihenfolge abgewichen werden darf, „um eine dynamische Ausbreitung
       des Coronavirus Sars-CoV-2 in oder aus Gebieten mit besonders hohen
       Inzidenzen in der Bundesrepublik Deutschland zu verhindern“.
       
       Wenn man die Antwort der Hamburger Sozialbehörde genau liest, argumentiert
       sie mit zwei Hindernissen: rechtlichen Zwängen, aber auch
       Impfstoffknappheit. Jonas Fiedler sagt dazu: „Es ist nie der gute
       Zeitpunkt.“ Immerhin scheint sich der Gedanke, dass es sinnvoll sein kann,
       die soziale Dimension der Pandemie auch in den Gegenmaßnahmen zu
       berücksichtigen, zaghaft zu verbreiten. „Wir brauchen ein Extrakontingent
       an Impfstoff für sozial Schwächere, ähnlich wie man es für die Hotspots in
       der Grenzregion zu Tschechien ermöglicht hat“, sagte der Generalsekretär
       der bayerischen SPD, Uli Grötsch, Anfang der Woche der Deutschen
       Presseagentur.
       
       „Sozial Benachteiligte“ hatte die Vorsitzende des Europäischen Ethikrats,
       Christiane Woopen, schon im November letzten Jahres als dritte Impfgruppe
       genannt – nach solchen mit dem Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs und
       denjenigen mit einem hohen Risiko, sich oder andere anzustecken. Aber der
       Vorschlag blieb ohne konkreten Widerhall. Was erstaunlich ist, denn diese
       Gruppe ist einerseits vulnerabel, da ihr Risiko schwerer Krankheitsverläufe
       deutlich erhöht ist, und zum andern: Selbst unter rein pragmatischen
       Gesichtspunkten ist es sinnvoll, gezielt in Gebieten mit hoher Inzidenz
       anzusetzen.
       
       Warum also diese Zögerlichkeit? Fragt man die Geschäftsführerin der
       Hamburgischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung Petra
       Hofrichter, ob sie eine Impfoffensive auf der Veddel für sinnvoll hält,
       dann fragt sie nach: „Gibt es Daten, wie die Impfung bisher angenommen
       wurde? Und welche zusätzlichen Bedarfe sehen die Bewohner:innen?“
       
       ## Mangel an belastbaren Zahlen
       
       Die Daten gibt es nicht. Nur so viel: Jonas Fiedler von der Poliklinik
       sagt, dass ihre Impfdosen regelmäßig erschöpft seien. Er hält die
       Veddeler:innen für ebenso impfinteressiert wie den Rest der
       Bevölkerung. Und selbst wenn es anders wäre: Mehr Informationen und ein
       Impfzentrum vor Ort würden das ja möglicherweise ändern.
       
       Vermutlich bremst weniger der Mangel an belastbaren Zahlen als zwei andere
       Punkte, die Petra Hofrichter nennt: „Das kann schnell in eine
       Neiddiskussion umschlagen“, sagt sie, und: „Wir brauchen bei der
       Entwicklung von Maßnahmen eine Berücksichtigung von sozialen Kriterien,
       ohne dabei bestimmte Stadtteile zu stigmatisieren.“
       
       Etwas lapidar gesagt muss eine Gesellschaft, der es bislang nicht gelingt,
       das soziale Auseinanderdriften zu bremsen, eine solche Neiddiskussion
       möglicherweise schlicht aushalten. Zumal sie sehr kurz greift: Noch sind
       wir eine Gesellschaft, deren Mitglieder so eng miteinander in Kontakt
       stehen, dass sie letzten Endes kommunizierende Röhren sind. Von weniger
       Infizierten auf der Veddel profitieren auch die Blankeneser:innen.
       
       ## Arbeitsstrukturen, die krank machen
       
       Und die Stigmatisierung? Vielleicht hilft auch hier ein nüchterner Blick.
       Inzidenzen sind nicht automatisch Ausweis von mangelnder Vorsicht und
       Ignoranz. Es sei denn, man denkt an diejenigen ArbeitgeberInnen, die das
       Homeoffice auch dann verweigern, wenn es möglich wäre. Ansonsten gilt: Die
       Möglichkeit, Abstand zu halten, privat oder beruflich, steht nicht allen
       zur Verfügung. Dem sollte eine Gesellschaft Rechnung tragen, selbst wenn
       sie nicht in Kategorien von Gerechtigkeit denkt.
       
       Dabei wäre die Pandemie ein guter Anlass, darüber nachzudenken, was
       Gesundheit ermöglicht. Hinweise zu gesunder Ernährung sind ein schöner
       Beginn, aber sie sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie wenig
       helfen, wenn es etwa Arbeitsstrukturen sind, die krank machen.
       
       Wie geht es nun weiter auf der Veddel? Deniz Celik von der Linken will bald
       den nächsten Antrag einreichen. Und das Plenum der Poliklinik will beim
       nächsten Treffen über die nächsten Schritte nachdenken. Am Montag hatte die
       Sozialbehörde dort angerufen und sich die Idee der Impfoffensive erklären
       lassen. Seitdem haben sie nichts von der Behörde gehört.
       
       26 Apr 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Friederike Gräff
       
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