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       # taz.de -- 1. Mai-Nostalgie: Blutmai, Bratwurst, Barrikaden
       
       > Frühlingsluft und Revolutionsromantik: Kein anderer Feiertag ist
       > nostalgisch so aufgeladen wie der 1. Mai. Wie ein Vertriebenentreffen für
       > Linke.
       
   IMG Bild: Endete mal wieder in einer Straßenschlacht: die „Revolutionäre 1. Mai Demo“ in Hamburg 2014
       
       Hannover taz | Gerade habe ich noch einmal „Babylon Berlin“ gesehen, die
       [1][viel gelobte und preisgekrönte Serie], und wie hübsch sie ihn da
       inszeniert haben, den berüchtigten „Berliner Blutmai“ von 1929: wie eine
       epische Schlacht (Staffel 1, Folge 4).
       
       Zu sehen ist, wie die von der KPD aufgerufenen Arbeiter trotz
       Demonstrationsverbotes zur Kundgebung in Neukölln strömen – wo die Polizei
       schon vorfreudig die Knüppel auf die Handflächen klatschen lässt.
       
       Und mittendrin der ratlose Kommissar Gereon Rath, der mehr als einmal fast
       zwischen die Fronten gerät: erst, als er in der U-Bahn zwischen den
       Arbeitsmassen feststeckt; dann, als er mit seinem Kollegen zu willkürlichen
       Hausdurchsuchungen abgestellt wird, in den engen, vollen, dunklen
       Arbeiterwohnungen viel Porzellan zerschlägt und partout keine Waffen
       findet, dafür aber Zeuge wird, wie die völlig enthemmten Polizeitruppen
       durch den Stadtteil walzen, zwei unbeteiligte Frauen vom Balkon schießen
       und der Vorfall anschließend vertuscht wird.
       
       Über 30 Tote, viele davon völlig Unbeteiligte, fast 200 teils schwer
       Verletzte und über 1.200 Verhaftungen [2][standen am Ende dieser drei
       ersten Maitage 1929] in Berlin.
       
       ## Feiertag oder Kampftag – diese Kluft gibt es immer noch
       
       Die Serie verdichtet das Ganze in den Ereignissen eines einzigen Tages. Der
       Bibliothekar und Historiker [3][Olaf Guercke hat dazu bei der
       Friedrich-Ebert-Stiftung] im vergangenen Jahr eine hübsche kleine Studie
       vorgelegt ([4][„Babylon Berlin und der Anfang vom Ende der Weimarer
       Republik“]).
       
       Immer mal wieder geraten in den Szenen davor und danach liebevoll
       ausstaffierte Berliner Zeitungskioske in den Blick, in denen die
       Schlagzeilen der jeweiligen Parteipresse um die Deutung der Ereignisse
       rangeln. Und irgendwie steckt da alles schon drin, was diesen Tag über
       Jahrzehnte prägen wird.
       
       Die Ereignisse markieren auch einen weiteren Höhepunkt im Zerbrechen der
       Arbeiterbewegung. Auf der einen Seite die Sozialdemokraten, die den
       Polizeipräsidenten stellten und den Kommunisten vorwarfen, die
       Zusammenstöße bewusst herbeigeführt und provoziert zu haben – die KPD hatte
       zum Beispiel Flugblätter verteilt, auf denen wahrheitswidrig behauptet
       wurde, das Demonstrationsverbot sei aufgehoben.
       
       Auf der anderen Seite führten die Kommunisten vor, wie wenig die SPD gegen
       den militaristischen und antidemokratischen Ungeist bei den Uniformierten
       auszurichten wusste – sozialdemokratischer Polizeipräsident hin oder her.
       Die Differenz spiegelt sich bis heute im Vokabular: Wer den 1. Mai als
       „Feiertag“ begeht, gehört in die SPD- und Gewerkschafter-Ecke, wer
       „Kampftag“ sagt, verortet sich links davon.
       
       Am Ende gewannen bekanntlich die Rechten: Wenige Jahre später erklärten die
       Nazis den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag und ließen Belegschaften ganzer
       Betriebe in Reih’ und Glied aufmarschieren, während SPD- wie
       KPD-Funktionäre flüchteten oder ins Arbeitslager wanderten.
       
       ## Zwischen Langeweile und Ausnahmezustand
       
       Man vergisst fast, dass es mal um etwas ging an diesem Tag. Nach dem Krieg
       wurde er ja eher in gepflegter Langeweile zelebriert, im Osten gab es
       Produktionsleistungsschauen und Aufmärsche, im Westen ein bisschen
       Gewerkschaftsfahnenschwenken, ein paar Reden hören und anschließend
       Bratwurst, Live-Musik und vielleicht eine Hüpfburg. Same procedure as every
       year, Heinz.
       
       Ausnahmezustand gab es ab den späten 80er-Jahren und in den 90ern dann ab
       und zu wieder in Berlin und manchmal auch in Hamburg (die hannoverschen
       Chaostage sehen so ähnlich aus, spielen aber an anderen Tagen). Auch das
       war – so ungefähr zehn, fünfzehn Jahre lang – ein seltsames Ritual: Eine
       Nacht lang spielten Autonome und andere mit der Polizei Katz und Maus und
       am nächsten Tag diskutierte die ganze Republik, wessen Eskalations- oder
       Deeskalationskonzept denn dieses Mal nicht oder doch aufgegangen war.
       
       Und mit Inbrunst diskutierten viele Linke, welche Botschaft denn nun
       eigentlich von dieser Art von Aufruhr noch ausging oder ob es letztlich
       nicht doch bloß ein paar besoffene Jungs auf der Suche nach Krawall waren,
       schwarz gewandete Hooligans mit pseudo-politischem Anstrich – und ob die
       nicht wenigstens die kleinen Läden mal in Ruhe lassen könnten.
       
       Die Mutter aller Mai-Krawalle, die legendäre Kreuzberger Nacht vom 1. Mai
       1987, als fast der ganze Kiez in Schutt und Asche gelegt wurde, [5][jährt
       sich im kommenden Jahr zum 35. Mal.] Und sicher werden wir uns wieder über
       minutiöse Rekonstruktionen beugen und die verbliebenen Veteranen befragen:
       [6][Wie war das noch,] wo fing das an, wer war dabei, wo hört das auf?
       
       ## Diese eine legendäre Kreuzberger Nacht
       
       Es muss – glaubt man diesen Erzählungen – eine seltsame Mischung aus
       Volksfest, Happening und Kampfgetümmel gewesen sein, damals. Zusammenstöße
       zwischen Hausbesetzern und Polizei hatte es schon vorher öfter gegeben,
       doch dass die Polizei ausgerechnet an jenem Morgen um 4.45 Uhr das
       Vobo-Büro, aus dem der Volkszählungsboykott organisiert wurde, im linken
       Mehringhof durchsuchte, wurde allgemein als Provokation aufgefasst.
       
       Die Stimmung war ohnehin angespannt: Die Stadt veranstaltete mit großem
       Tamtam 750-Jahr-Feiern, im östlichen Kreuzberg tummelten sich derweil die
       abgehängten und gelangweilten Jugendlichen – bei 50 Prozent lag die
       Jugendarbeitslosigkeit, eher 70 unter den Migrantenkindern.
       
       Es gehörte dann wohl nicht mehr viel dazu, das traditionelle – und in
       weiten Teilen erst einmal friedliche – Straßenfest auf dem Lausitzer Platz
       entgleisen zu lassen, und die Polizei lieferte auch das. Nach einigen
       kleineren Zusammenstößen räumte sie das Fest mit Tränengas und
       Schlagstöcken. Daraufhin eskalierte die Lage.
       
       Barrikaden wurden errichtet, die Polizei musste den Rückzug antreten. 30
       Geschäfte wurde im Lauf der Nacht geplündert, der Bolle-Supermarkt am
       Görlitzer Bahnhof brannte danach aus und wurde zum auch international
       beachteten Symbolbild für diese Nacht – auch wenn sich Jahre später
       herausstellte, dass [7][eigentlich ein Pyromane ihn] angezündet hatte.
       
       Es brannte noch mehr in jener Nacht, selbst ein Feuerwehrauto, die
       Feuerwehr selbst wurde am Löschen gehindert. Die dunklen Rauchsäulen, das
       rhythmische Getrommel Hunderter Menschen an den Streben der Hochbahn, die
       Live-Radioübertragung durch Radio 100 lockte immer mehr Sympathisanten und
       Schaulustige an. Erst in den frühen Morgenstunden gelang es der Polizei,
       den Anschein von Kontrolle zurückzugewinnen.
       
       ## Wer gewonnen hat, ist noch lange nicht ausgemacht
       
       In den Tagen danach begann das große Rätselraten, wer oder was da
       explodiert war. Unter den 47 Festgenommenen war nur eine Minderheit
       eindeutig der Szene zuzuordnen. Von frustrierten Jugendlichen aus der
       ganzen Stadt war die Rede, es kursierten aber auch Erzählungen von „ganz
       bürgerlich aussehenden Leuten“ und „Damen in Stöckelschuhen“, die beim
       Plündern beobachtet worden seien.
       
       Hier wurzelt die „Revolutionäre 1. Mai Demo“, die in den folgenden Jahren
       dann immer wieder für Diskussionen und Schlagzeilen sorgte. Wobei die
       Frage, wann das denn eigentlich wieder aufhörte – zumindest in dem Umfang
       und der Intensität – vielleicht noch am wenigsten diskutiert und durchdacht
       erscheint.
       
       An der Oberfläche scheinen ja die Kiez-Bewohner gewonnen zu haben, die
       endgültig die Schnauze voll hatten und sich die Plätze mit ihrem Volksfest
       „Myfest“ zurückeroberten, das allerdings auch – bitterer Treppenwitz der
       Geschichte – schon längst zur Partytouristenfalle mutiert war, bevor Corona
       kam. Und wer in dem mittlerweile kaum noch bezahlbarem Stadtteil am Ende
       wirklich gewonnen hat, ist vielleicht auch die zweite Frage.
       
       Das Phänomen „Mai-Krawall“ ist allerdings auch anderswo auf dem Rückzug,
       abgeebbt, klein gekocht, müde und alt.
       
       ## Neue Akteure und Aktionen – kommt der Mai zurück?
       
       Und stattdessen? Der 1. Corona-Mai im letzten Jahr machte noch weniger Spaß
       als sonst schon. Die Gewerkschaften haben viele Veranstaltungen ins
       Virtuelle verlegt – da fallen vielleicht auch die sinkenden
       Teilnehmerzahlen nicht ganz so unangenehm auf. Ob sie insgesamt von der
       Pandemie profitieren können – weil Arbeitnehmer*innen sehen, wie
       wichtig eine starke Lobby ist –, bleibt abzuwarten.
       
       [8][Nun versuchen Querdenker und Rechte verstärkt, den 1. Mai für sich zu
       vereinnahmen], was wiederum dazu führt, das viele linke Gruppen aufwachen
       und Zulauf erfahren, wenn sie Gegendemos organisieren – manche lassen sich
       davon sogar in ganz andere Stadtteile locken, abseits der üblichen
       Spielwiesen und Demorouten.
       
       Immerhin lassen sich aber auch zaghaft ein paar neue Akteure und
       Aktionsformen erahnen. In Berlin zieht [9][die Spaßguerilla durchs
       Villenviertel], in mehreren Städten laufen feministische Aktionen unter dem
       Motto „reclaim the night“. Vielleicht kommt er ja doch noch mal wieder, der
       1. Mai.
       
       1 May 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Krimiserie-Babylon-Berlin/!5536521
   DIR [2] /Roter-Wedding--rot-wie-Blut/!667134/
   DIR [3] https://www.fes.de/archiv-der-sozialen-demokratie/artikelseite-adsd/fiktion-trifft-realitaet-babylon-berlin-und-der-digitalisierte-vorwaerts
   DIR [4] http://library.fes.de/pdf-files/bibliothek/16464.pdf
   DIR [5] /30-Jahre-Maikrawalle/!5401407
   DIR [6] /25-Jahre-1-Mai/!5094884
   DIR [7] /Feuer-laesst-mich-heute-kalt/!287674/
   DIR [8] /Politische-Bewegungen-in-Corona-Zeiten/!5674569
   DIR [9] /1-Mai-in-Berlin/!5592035
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nadine Conti
       
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