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       # taz.de -- Buch über Neoliberalismus: Neue alte Monster
       
       > Der Wissenschaftler Thomas Biebricher analysiert in seinem Buch den
       > Neoliberalismus und fragt: Welche Bilanz lässt sich nach einem Jahr
       > Corona ziehen?
       
   IMG Bild: Demonstration der grünen Jugend nach Ausbruch der Finanzkrise 2009
       
       Es war bei Weitem nicht das erste Mal, dass diese Hoffnung laut wurde, und
       doch sollte es diesmal endlich wirklich so weit sein: Die Coronapandemie
       sollte endgültig das Ende des globalen Neoliberalismus einläuten. Die
       Erwartung lautete, dass angesichts der Jahrhundertkrise nun endlich wieder
       ein starker Staat das Regiment von den neoliberal entfesselten Märkten
       übernehmen würde.
       
       Aber ist das überhaupt eine zutreffende Beschreibung des Neoliberalismus?
       Und welche Bilanz lässt sich ein Jahr nach Ausbruch der Krise ziehen?
       
       Der [1][Politikwissenschaftler Thomas Biebricher] geht in seiner
       politischen Theorie des Neoliberalismus neben vielen anderen auch diesen
       beiden Fragen nach. Er wendet sich damit aber zugleich gegen die
       verbreitete These, der Begriff [2][„Neoliberalismus“] tauge aufgrund seiner
       Schwammigkeit heute allenfalls noch zur Selbstdiskreditierung derer, die
       ihn – in zumeist kritischer Absicht – verwenden. Denn eine solche Haltung
       gleiche letztlich nur allzu sehr jenem „größten Trick des Teufels“, nämlich
       „die Welt glauben zu lassen, es gäbe ihn gar nicht“.
       
       Stattdessen sieht Biebricher sich lieber einmal genauer an, was eigentlich
       diejenigen unter Neoliberalismus verstanden, die sich noch selbst dieser
       Denkrichtung zurechneten: etwa die deutschen Ordoliberalen der Freiburger
       Schule um Walter Eucken, die als Begründer der sozialen Marktwirtschaft
       gelten. Aber auch den Österreicher Friedrich Hayek und die Chicago-Schule
       um Milton Friedman.
       
       ## Kein laissez-faire
       
       Solche Untersuchungen der Gründungsfiguren des Neoliberalismus haben auch
       andere unternommen – nicht alle freilich so kenntnisreich wie Biebricher.
       Sein besonderer Zugriff besteht zudem darin, die frühen Neoliberalen gerade
       nicht zu Vertretern eines ökonomistischen Marktfundamentalismus zu machen,
       sondern sie als politische Ökonomen ernst zu nehmen, deren regulatorische
       Vorstellungen – ganz im Gegensatz zum heutigen Mythos eines neoliberalen
       „laissez-faire“ – bisweilen auch ins Autoritäre kippen können.
       
       Die Begründung des Neoliberalismus geschieht unter dem Eindruck einer
       tiefgreifenden Krise des Liberalismus in der Zeit zwischen den Weltkriegen.
       Es sind die beiden Kollektivismen des Sozialismus und des
       Nationalsozialismus (und später noch der Keynesianismus), zwischen denen
       die Neoliberalen die ehrwürdige Tradition des Liberalismus zerrieben sehen,
       die gleichwohl mit ihrer theologischen Überformung einer vermeintlich
       gottgegebenen Marktordnung auch selbst zu ihrem Niedergang beigetragen
       habe.
       
       Dieser Ermahnung zur theoretischen Säkularisierung ist freilich der
       Neoliberalismus seinerseits nicht immer nachgekommen. Er erkannte
       allerdings die Notwendigkeit, den „Bedingungen der Möglichkeit
       funktionierender Märkte“ auf politischem Wege nachzuhelfen, anstatt sie
       bloß sich selbst (und Gott) zu überlassen.
       
       Dabei entstehen bei den jeweiligen Lösungsvorschlägen für diese geteilte
       „neoliberale Problematik“ laut Biebricher nicht nur große Unterschiede
       zwischen den Ansätzen, sondern auch zahlreiche interne Widersprüche.
       
       ## Weg zur Knechtschaft
       
       Wenn etwa Hayek einräumt, dass die „Aufrechterhaltung des Wettbewerbs […]
       sehr wohl auch mit einem ausgedehnten System der Sozialfürsorge vereinbar“
       ist, scheint das hingegen kaum vereinbar mit seiner These, dass jegliche
       staatliche Planung unweigerlich einen „Weg zur Knechtschaft“ bedeute.
       
       Und die erklärte Aversion gegenüber der autoritären Dimensionen
       kollektivistischer Regime steht im schroffen Kontrast zur Konzeption einer
       „Übergangsdiktatur“, die sowohl Hayek als auch Friedman durch ihre
       Beratertätigkeiten im Chile Pinochets untermauerten.
       
       Gilt Chile als erstes Versuchslabor des real existierenden Neoliberalismus,
       widmet sich Biebricher im zweiten Teil seines Buchs der
       „Ordoliberalisierung Europas“ im Zuge der Finanz- und Eurokrise. In nach
       wie vor erschütternder Klarheit resümiert er, wie die Eurozone sich von
       einer anfangs universellen keynesianistischen Investitionspolitik abwandte
       und dem verheerenden Austeritätsparadigma verschrieb.
       
       Aus einer Art Frankensteins Monster hinsichtlich neoliberaler
       Theoriefragmente in den Anfangsjahrzehnten der EU, habe sich die Union im
       Laufe der Krise zu einer Verkörperung der Eucken’schen Wettbewerbsordnung
       auf der Ebene von Nationalstaaten entwickelt.
       
       ## Signum unserer Zeit
       
       Das damit einhergehende Demokratiedefizit freilich hat in Form neuer
       autoritärer Bewegungen sein eigenes Monster hervorgebracht, dessen
       Affinität zu neoliberalen Ideen Biebricher abschließend anhand zahlreicher
       europäischer Beispiele, inklusive der AfD, aufzeigt: „Wenn es zutrifft,
       dass das Signum unserer Zeit der Aufstieg des Autoritarismus ist, dann
       sollten wir nicht davon ausgehen, dass damit das Ende des Neoliberalismus
       besiegelt ist.“
       
       Bleibt zuletzt noch die Hoffnung auf die Coronakrise, in der die EU
       erstmals von ihrer strengen Fiskalstabilitätspolitik abwich und sich zur
       Aufnahme gemeinsamer Schulden zugunsten besonders betroffener Staaten
       entschloss. Doch Biebricher entdeckt auch hier im Kleingedruckten die
       Knüpfung der Zuwendungen an die bekannten Reformauflagen.
       
       Sollte die EU schließlich im Zuge der Rückzahlungen über eigene
       Steuererhebung ihre staatlichen Qualitäten ausbauen, dürfte das den Kampf
       um ihre Demokratisierung neu entfachen.
       
       2 May 2021
       
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