URI: 
       # taz.de -- Occupy und Arabellion: Was von den Aufständen übrig blieb
       
       > 2011 war das Jahr des Arabischen Frühlings und von Occupy. Gescheitert
       > sind beide – aber die Gründe, sich zu empören, sind nicht verschwunden.
       
       Vor einem Jahrzehnt lautete der Schlachtruf der Stunde: [1][„Empört euch!“]
       Er stammte von dem ehemaligen Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel, der die
       junge Generation damit ermuntern wollte, über die Notlagen und sozialen
       Missstände ihre Empörung kundzutun. Sowohl in der Arabellion, die im
       Dezember 2010 in Tunesien ausgebrochen war, als auch während der im
       September 2011 in Manhattan gestarteten [2][Occupy-Bewegung] war Empörung
       das zentrale Motiv.
       
       Während sich die Proteste in den arabischen Ländern gegen Korruption,
       Vetternwirtschaft und Machtmissbrauch richteten und damit ihre jeweiligen
       Machteliten angriffen, bezogen sich die der Occupyer nicht auf einzelne
       Regime, sondern auf ein ganzes System – das der Banker und Broker, die in
       ihren Augen nichts anderes als ihre Profitmaximierung im Sinne hatten.
       
       Insgesamt war das eine Misstrauenserklärung, die sich gegen ein
       entfesseltes Finanzsystem und dessen zunehmend unkontrollierteren Einfluss
       auf die Politik richtete. Insofern ging es also auch um die Demokratie. Um
       mehr Demokratie, eine bessere Form von Demokratie, aber nicht unbedingt um
       einen Bruch mit der Verfassung, der Gewaltenteilung und dem Rechtsstaat.
       
       Da sich die Diskrepanz zwischen Armen und Reichen – auch durch eine
       ungerechte Steuergesetzgebung – über viele Jahre hinweg ausgeweitet hatte,
       war das Misstrauen gegenüber Abgeordneten und Regierungsmitgliedern so weit
       angestiegen, dass von einem elementaren Argwohn gegenüber den
       demokratischen Institutionen als solchen gesprochen werden konnte.
       
       ## Lieber Plebiszit als Revolution
       
       Daher praktizierten die Anhänger der Occupy-Bewegung in ihren überall auf
       der Welt errichteten Protestcamps eine Form der Basisdemokratie. Auf den
       von ihnen in den Großstädten besetzten Plätzen sollten alle wesentlichen
       Entscheidungen möglichst plebiszitär gefällt werden. Auf den
       Generalversammlungen hatten alle das gleiche Recht, sich zu äußern und
       abzustimmen.
       
       Diese demonstrative Form direkter Demokratie war Ausdruck eines
       Vertrauensschwunds gegenüber den Einrichtungen des parlamentarischen
       Systems. Dieses Misstrauen war aber nicht so stark, dass es sich – von
       einzelnen Stimmen abgesehen – gleich im Ruf nach einer Revolution, nach dem
       Sturz des politischen Systems Luft zu schaffen versucht hätte.
       
       Erheblich anders sah das hingegen in verschiedenen Ländern Nordafrikas, des
       Nahen und des Mittleren Ostens aus. Dort bestand das [3][primäre Ziel der
       Rebellen darin, ihr jeweiliges Regime zu Fall zu bringen] und die
       Autokratien durch demokratische Systeme zu ersetzen.
       
       Und das gelang in einigen Staaten überraschend schnell. Dort ging es von
       Anfang an also um mehr als nur um Reformen. Die Krise reichte bis zu den
       Grundfesten des jeweiligen Herrschaftssystems hinab. Insofern waren die in
       den arabischen Ländern in Gang gekommenen Aufstände Ausdruck einer sehr
       viel tiefer reichenden sozialen Erschütterung.
       
       ## Reform statt Klassenkampf
       
       Die Occupy-Bewegung verkörperte tatsächlich eine weltumspannende Bewegung.
       Sie trug das Adjektiv „global“ völlig zu Recht. Allen egalitären Tendenzen
       zum Trotz handelte es sich bei ihr jedoch um keine „linke“ Bewegung im
       eigentlichen Sinne. Sie war weder strikt antikapitalistisch noch in einem
       marxistischen Sinne klassenkämpferisch geprägt.
       
       Reformerische Ziele standen im Vordergrund. Es ging ihr um eine
       grundlegende Korrektur des Banken- und Finanzsystems ebenso wie um eine
       Erneuerung der Politik. Den meisten ihrer Aktivistinnen und Aktivisten ging
       es weder um die Abschaffung des Kapitalismus noch um die Auflösung der
       parlamentarischen Demokratie. Sowohl von ihren Trägern als auch von ihren
       Zielsetzungen her dominierten in ihr am ehesten die Exponenten einer
       Mittelschichtenbewegung.
       
       Trotz hoher Zustimmungsraten und großer medialer Aufmerksamkeit gab es
       allerdings nur wenig Grund, diese Bewegung zu überschätzen und für eine
       politisch tatsächlich wirksame Kraft zu halten. Sie verfügte über keine
       mächtigen Hebel wie Gewerkschaften etwa, die Betriebe bestreiken und damit
       ganze Produktionszweige lahmlegen können. Von Anfang an war nicht zu
       übersehen, dass sie wohl kaum dazu in der Lage sein würde, direkt auf
       politische Entscheidungsträger einzuwirken und auf diesem Wege gravierende
       Veränderungen zu bewirken.
       
       ## Seht her, das habt ihr aus uns gemacht
       
       Im Nachhinein lässt sich die Occupy-Bewegung vor allem als Anklage und
       Hilferuf verstehen. Das wichtigste Signal, das von den zumeist in den
       Bankenvierteln errichteten Protestcamps ausging, lautete: Seht her, das
       habt ihr mit uns gemacht! Dabei haben wir genau das getan, was ihr von uns
       erwartet habt: Wir haben studiert und einen Universitätsabschluss gemacht.
       Aber ihr habt uns nur wenig Respekt entgegengebracht und uns in den
       allermeisten Fällen nicht mit einer Anstellung belohnt. Zu einem Zeitpunkt,
       an dem es mit unserem Leben endlich Ernst werden sollte – mit Beruf und
       Status, mit Ehe oder Partnerschaft, Kindern und Familie –, wissen wir nicht
       mehr weiter.
       
       Wir fühlen uns im Stich gelassen. Und wir sind nicht einfach ein paar
       wenige Außenseiter, wir sind richtig viele. Wenn wir scheitern, dann wird
       etwas von der Gesellschaft im Ganzen wegbrechen und damit auch ein Teil
       unser aller Zukunft.
       
       Allen Occupy-Gruppierungen war gemeinsam, dass sie ihre ambitionierten
       Ziele nicht erreichen konnten. Sie verloren relativ rasch an Schwung. Noch
       während sie im Gange waren, zeichnete sich am Horizont fast unvermeidlich
       jenes Schicksal ab, das für die meisten Jugendbewegungen noch immer
       Gültigkeit besaß – der Misserfolg in ihren wesentlichen Zielsetzungen.
       Banken, Börsen und das internationale Finanzsystem so weit zu verändern,
       dass im Finanzsektor aufbrechende Krisen künftig verhindert oder zumindest
       abgefedert werden könnten, hatte sich als ein zu großer Brocken erwiesen.
       
       Auch hinsichtlich der Arabellion kommt man kaum umhin, von einem Scheitern
       zu sprechen. [4][In Tunesien konnte eine Autokratie durch eine Demokratie
       ersetzt werden.] Aber das war die Ausnahme. Die Aufstände in Ägypten,
       Syrien, Libyen und Jemen, in denen die Protestierenden 2011 mit so viel
       Elan, Opferbereitschaft und Hoffnung angetreten waren, endeten mit
       Fehlschlägen.
       
       ## Das Desaster der Arabellion
       
       Bloß von einem Scheitern zu sprechen klingt bei einigen der erwähnten Fälle
       inzwischen beinahe zynisch. Denn in den drei letztgenannten Ländern waren
       aus Protesten Aufstände, aus Aufständen Bürgerkriege und daraus wiederum
       Kriege geworden, die irgendwann von externen Mächten dominiert worden sind
       und die Gestalt von Stellvertreterkriegen angenommen hatten. Das sind
       überaus tragische Folgen, die sich zu Beginn unter den Protestierenden wohl
       kaum jemand hätte vorstellen können.
       
       Was also bleibt von den Hoffnungen und Träumen von damals? Zumindest die
       Frage, ob die mutmaßlichen strukturellen Ursachen der Arabellion ebenso wie
       die der Occupy-Bewegung immer noch fortexistieren. In meinem Buch „Aufruhr
       der Ausgebildeten“ von 2012 habe ich die These vertreten, dass die Wurzeln
       für die spektakulären Proteste der Jahre 2011/2012 in ihrem Kern in einem
       Widerspruch zwischen guter Ausbildung einerseits und mangelnder Integration
       der Ausgebildeten in den Arbeitsmarkt andererseits lägen.
       
       ## Ein Aufstand der Ausgebildeten
       
       So unterschiedlich die Vorgänge an der Wall Street in Manhattan und auf dem
       Tahrirplatz in Kairo von ihrer Phänomenologie her auch sein mochten – sie
       waren vor allem von akademisch qualifizierten jungen Erwachsenen initiiert
       worden, denen der Zugang zu Berufsfeldern, die ihren Qualifikationen
       angemessen gewesen wären, überwiegend versperrt war.
       
       Interessanterweise ist der britische Historiker Niall Ferguson, der 2019
       wegen der global zu beobachtenden enormen Zunahme an Protestereignissen den
       Zusammenhang zwischen Bildung und Protestbereitschaft näher untersucht hat,
       zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Der „Überschuss an jungen
       qualifizierten Leuten“, so die These des marktradikalen wie konservativen
       Ferguson, sei der wahre Grund, warum sie weltweit massenhaft und von Chile
       bis Hongkong auf die Straßen gehen würden.
       
       Er bezog sich dabei auf Daten der Weltbank aus dem Jahr 2016. Demnach ist
       der Anteil von jungen Erwachsenen mit Hochschulbildung im Verhältnis zu
       ihrer Altergruppe seit den 80er Jahren weltweit stark angestiegen. In
       Ägypten etwa von 15 auf 34 Prozent, in Frankreich von 34 auf 64, in
       Hongkong von 13 auf 72 und in Chile gar von 18 auf 90 Prozent. Unter dieser
       Voraussetzung hätten sich Proteste insbesondere in jenen Ländern
       ausgebreitet, in denen eine besonders große Kluft zwischen akademischer
       Bildung und einer den erworbenen Qualifikationen angemessenen Beschäftigung
       existierte.
       
       ## Das materielle Sein und das politische Bewusstsein
       
       Fergusons Rede vom „Überschuss an jungen qualifizierten Leuten“ klingt nun
       allerdings eher nach der Diagnose eines Sozialingenieurs als dem empirisch
       unterfütterten Ergebnis eines Sozialwissenschaftlers. Ganz so, als komme es
       bei den jeweiligen Protesten nicht so sehr auf ihre Inhalte und die den
       Aktionen zugrunde liegenden Motive an, sondern allein auf die darin
       verborgene Dysfunktionalität in dem Wirtschafts- und Finanzsystem.
       
       Ein Jahrzehnt nach den sich überschneidenden Rebellionen im arabischen Raum
       wie in der westlichen Welt wäre es allerdings eine Herausforderung, die
       sozialempirische Diskrepanz zwischen den akademisch Ausgebildeten und
       ihrer Bereitschaft, sich ihrem Schicksal nicht einfach zu fügen, sondern
       weiter auf die Straßen zu gehen, um Autokratien ebenso wie menschen- und
       umweltverachtende Finanzsysteme zu bekämpfen, näher zu untersuchen. Es
       spricht viel dafür, dass die sozialen Ungerechtigkeiten, die die jungen
       Leute auf die Barrikaden getrieben haben, unvermindert weiter
       fortexistieren.
       
       Das ist zumindest in Ägypten so, wo nach dem Militärputsch von
       Generalfeldmarschall al-Sisi das Rad auf den Stand des Mubarak-Regimes
       zurückgedreht worden ist. In Tunesien hat man die demokratische Revolution
       nicht zu Unrecht gefeiert. Doch die sozialen Missstände, deretwegen sich
       der gebildete Straßenhändler Mohamed Bouazizi im Dezember 2010 in voller
       Verzweiflung angezündet hatte, sind keineswegs geringer geworden. Die
       Gründe, sich zu empören, sie sind nicht verschwunden.
       
       1 May 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Emp%C3%B6rt_Euch!
   DIR [2] /Schwerpunkt-Occupy-Bewegung/!t5050482
   DIR [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Arabischer_Fr%C3%BChling
   DIR [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Revolution_in_Tunesien_2010/2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wolfgang Kraushaar
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Occupy-Bewegung
   DIR Zehn Jahre Arabischer Frühling
   DIR GNS
   DIR Finanzen
   DIR Regime
   DIR Zehn Jahre Arabischer Frühling
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Kolumne Die Nafrichten
   DIR Schwerpunkt Occupy-Bewegung
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Musikalischer Protest aus Tunesien: Sie spucken auf das korrupte System
       
       Tunesien kämpft zehn Jahre nach der Revolution mit hoher Armut und
       Polizeiterror. Underground-Bands wie Znous protestieren mit lauter,
       wütender Musik.
       
   DIR Libyen unter der Herrschaft von Milizen: Brüderlicher Terror
       
       Hamzas Vater und seine Brüder sind tot. Karimas Kinder sind verschwunden.
       Tarek wurde gefoltert. Sie alle sind Opfer von sechs Brüdern.
       
   DIR Bezeichnung Arabischer Frühling: Irgendwie alles „Arabien“
       
       Vor zehn Jahr begann der so genannte Arabische Frühling. Doch die
       etablierte Bezeichnung zeigt eine vereinfachte Betrachtung komplexer
       Verhältnisse.
       
   DIR Nachruf auf David Graeber: Die Welt ganz neu sehen
       
       Der Anthropologe David Graeber wollte Kapitalismus nicht nur verstehen,
       sondern überwinden. Sein ungewöhnlicher Blick wird fehlen.
       
   DIR US-Linke nach der Finanzkrise: Bye-bye, Occupy
       
       Die Aktivisten von damals sind verschwunden. Und ihre Ideen? Was wurde aus
       der Bewegung? Eine Spurensuche im Süden Manhattans.