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       # taz.de -- Kunstbuch über das Seidengeschäft: Graues Leinen für leuchtende Seide
       
       > Der Laden von Herrn Wong in Los Angeles fiel der Autorin Xiaowen Zhu auf.
       > Ihr Multimediaprojekt „Oriental Silk“ umfasst nun auch ein Buch.
       
   IMG Bild: Kenneth Wong in seinem Ladengeschäft für Seide in Los Angeles 2015
       
       Der Einband des aufwendig gestalteten Kunstbuchs ist nicht, wie man
       erwarten könnte, aus Seide, sondern ganz klassisch aus Leinen. Und zwar
       ausgerechnet aus grauem Leinen. Wo das Buch doch von farbenprächtiger Seide
       handelt, wie die chinesischen und lateinischen Zeichen besagen, mit denen
       der Einband bedruckt ist.
       
       In „Oriental Silk“ von [1][Xiaowen Zhu] erzählt Kenneth Wong ihr die
       Geschichte seines Ladens für Seidenstoffe. Die Künstlerin und Autorin
       entdeckte ihn in einer der teuersten Einkaufsmeilen der Welt, im Gebiet des
       Rodeo Drive in Beverly Hills, Los Angeles.
       
       In dieser Umgebung stach Herrn Wongs Geschäftslokal mit seiner
       Chopstick-Neonschrift, wie sie weltweit von chinesischen Restaurants
       bekannt ist, als solcher Anachronismus hervor, dass sich Zhu entschloss,
       der Sache auf den Grund zu gehen. Sie betrat den Laden.
       
       Und wie das Leinen nicht zur Seide und „Oriental Silk Importers“ nicht zu
       den Nachbarn Gucci, Prada oder Chanel passt, so pflegt Xiaowen Zhu das
       Spiel der Gegensätze auch bei ihren Aufnahmen aus dem Ladengeschäft, die
       sämtlich schwarzweiß sind. Farbe kommt erst gegen Ende ins Buch, nach den
       Gesprächen, die die Autorin bei unterschiedlichen Gelegenheiten über ihr
       Projekt, zu dem neben dem Buch auch Kunstinstallationen [2][und ein Film
       gehören], geführt hat.
       
       1970 eröffneten Kenneth Wongs Eltern den Laden. Sie waren alt geworden und
       nicht mehr in der Lage, die Wäscherei, die sie – paradigmatisch für
       Einwanderer von der Mitte des 20. Jahrhunderts – jahrzehntelang betrieben
       hatten, fortzuführen. Die Idee, chinesische Seide nach Amerika einzuführen,
       die Kenneth Wong zufolge der Hollywoodstar Anna May Wong bei einem Besuch
       der Wäscherei aufbrachte, war kühn. China steckte mitten in der
       Kulturrevolution, und Handelsbeziehungen zwischen den Ländern bestanden
       nicht.
       
       Kühn war auch die praktische Durchführung: Über Mittelsmänner und Hongkong
       entstand eine kleine, informelle Seidenstraße nach Los Angeles, wo die
       Studios eine kaufkräftige Abnehmerschaft bildeten. Als Mr. Wong, der
       Informatik studiert und in der Luftfahrtindustrie gearbeitet hatte, aus
       Respekt vor der Lebensleistung seiner Eltern den Laden übernahm, wurden die
       Geschäfte schwieriger. Aber, noch Xiaowen Zhu beobachtete 2015 im Laden
       ausreichend Kunden, die die kostbaren Stoffe und die aufwendige Handarbeit
       der Seidenstickerei wertschätzten.
       
       Ein Gesichtspunkt, den die britisch-chinesische Künstlerin, [3][die jetzt
       in Berlin lebt], vor allem in ihren Installationen stark macht. Denn so
       einfach sich die Erzählung von Herrn Wong zu entfalten scheint, so komplex
       sind die Aspekte, die verhandelt werden. Über Kundengespräche im Laden und
       Zhus Fragen kommen die Hinterlassenschaften der chinesisch-amerikanischen
       Einwanderergeschichte und die Erfahrung im westlichen Kapitalismus ins
       Spiel, bis hin zum Identitätsangebot der Seide in der Diaspora und der
       ästhetischen Faszination der Chinoiserien.
       
       Im Band, der persönliche Erinnerungen, Zeit- und Unternehmensgeschichte
       sowie einen minimalistisch gehaltenen Fotoessay verschränkt, sind dazu
       Diskussionen anlässlich der Filmvorführung und der Installationen zu
       „Oriental Silk“ transkribiert, in denen diese Punkte noch vertieft werden.
       
       Seiner inhaltlichen Komplexität trägt das Buch in seiner außergewöhnlichen
       formalen Gestaltung Rechnung. Bilder und Texte sind in je eigene Blöcke
       gefasst, wobei die Bildblöcke auf Papier in zartem Gelb, Grün, Grau und
       Weiß gedruckt sind, während das Gespräch mit Kenneth Wong auf
       zurückspringende, weil schmaler geschnittene, weiße Papierbögen gesetzt
       ist. Die Diskussionen finden sich in einem rosafarbenem Block, der Anhang
       ist weiß auf schwarz gedruckt. Alles natürlich zweisprachig, links der
       chinesische, rechts der englische Text. Der Blick auf die Geschäftsplakate
       und Flyer sowie das Display mit den Nähseiden in allen Farbschattierungen
       am Ende des Buchs ist nicht zuletzt deshalb beglückend, weil man da weiß,
       dass Kenneth Wong sich zur Ruhe setzen konnte.
       
       Und zwar ohne weitere Sorgen, weil der neue Eigentümer, dem er sein
       Geschäft im Mai 2020 verkaufte, es fortführt.
       
       20 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.zhuxiaowen.com
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=MYbIN255EbE
   DIR [3] https://www.timesartcenter.org/de/times-art-center-berlin/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
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