URI: 
       # taz.de -- Biografie über Maria Orska: Wiederentdeckung eines Theaterstars
       
       > In Berlin und in Wien wurde Maria Orska vor 100 Jahren ein Star. Ursula
       > Overhage erzählt in ihrer Biografie deren aufregendes Leben nach.
       
   IMG Bild: Maria Orska, Rollenporträt als „Laura“ in Strindbergs „Der Vater“, 1915 in Berlin
       
       Als das [1][Hebbel-Theater 1908] eröffnet wurde, [2][war Berlin eine
       blühende Theaterstadt]. Der Gründer und erste Direktor, der ungarische
       Regisseur Eugen Robert, der das Haus nach dem Dramatiker Friedrich Hebbel
       benannt hatte, konnte es zwar nicht lange halten. 1911 übernahmen Carl
       Meinhardt und Rudolf Bernauer, ebenfalls österreichisch-ungarischer
       Herkunft, die Direktion des Kreuzberger Privattheaters, einer von bald vier
       Spielstätten, die sie mit Erfolg leiteten.
       
       Das heute wieder Hebbel-Theater genannte Haus firmierte in der Zeit als
       Theater in der Königgrätzer Straße und erwarb sich einen guten Ruf als
       Spielstätte für moderne Dramatik, das den Autoren Hendrik Ibsen, August
       Strindberg, Oscar Wilde und Frank Wedekind ein großes und neugieriges
       Publikum bescherte.
       
       Viele Künstler:innen auf der Bühne und hinter den Kulissen haben an
       diesem Erfolg mitgearbeitet. Unter ihnen die Schauspielerin Maria Orska,
       deren leichter Akzent ihre russische Herkunft aus Odessa verriet. Sie war
       ein glamouröser Star der Theaterszene, von Berliner Kritikern euphorisch
       gefeiert, scharf auch beobachtet in ihrem schlingernden Privatleben.
       
       Aber anders als einige ihrer Kolleg:innen und Freund:innen, deren Namen
       wir heute noch kennen, etwa die [3][Tänzerin Anita Berber,] die
       Schauspielerin Tilla Durieux, die Schauspieler Paul Wegener, Hans Albers
       oder [4][Fritz Kortner] (mit Letzterem hatte sie in Wien studiert und in
       Mannheim erste Engagements), ist Maria Orska vergessen.
       
       Von den vielen Stummfilmen, die sie zwischen 1916 und 1923 mit der
       Regisseur Max Mack realisierte, existiert nur noch ein einziger, „Die
       Schwarze Loo“. Erwischt man dessen flackernde Bilder auf Youtube, ahnt man
       ein wenig von ihrem leichtfüßigen, spritzigen Temperament – sie spielt eine
       Tänzerin –, aber spürt auch die Vergänglichkeit des theatralen
       Augenblicks.
       
       ## Verstreute Spuren zusammentragen
       
       Maria Orska zurückzuholen in den Kreis berühmter Künstlerlegenden kann nun
       einem Buch gelingen, das ihre Biografie erzählt: „Sie spielte wie im
       Rausch. Die Schauspielerin Maria Orska“ von Ursula Overhage. Es beruht auf
       einer akribischen Recherche nach den verstreuten Spuren der Schauspielerin,
       die als Rahel Blindermann in einer jüdischen Familie an der
       Schwarzmeerküste geboren wurde. Es erhält seine Konturen durch ein breites
       Wissen über die ersten Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts. Vor allem aber
       lebt das Buch von der anschaulichen Übersetzung des Wissens in szenische
       Beschreibungen.
       
       Zwischen den recherchierten Fakten nutzt Overhage ihre dichterische
       Freiheit, besonders in den Kapiteln über die Jugend der Schauspielerin. Sie
       malt aus, wie Rahel mit 16 Jahren bei einem Spaziergang in Odessa auf der
       Promenade ihren Onkel, einen Künstleragenten, dazu bringt, sie mit nach
       Sankt Petersburg zu nehmen und dem Leiter der Wiener Schauspielschule
       vorzustellen.
       
       Den Anfang ihres mutigen Wegs, die Energie des Aufbruchs, ihr
       Selbstbewusstsein, ihr Talent, andere von sich zu überzeugen, ihren Charme,
       ihre Tricks, ihre Lust auch am Erfinden von Geschichten, die nicht immer
       stimmen mussten, zeichnet Overhage mit Liebe nach. Sie nimmt in ihrer
       Biografie für Maria Orska als Person ein, die man mit ihren Schwächen und
       Fehlern mag.
       
       ## Was sie sah, was sie hörte
       
       Bald wechseln die Schauplätze schnell im Leben der jungen Schauspielerin,
       die sich erst Daisy Orska, dann Maria Orska nennt. Overhage nutzt die
       Momente der Ankunft in einer neuen Stadt, mit Zeit- und Lokalkolorit
       atmosphärische Bilder entstehen zu lassen. Was sah Maria Orska zum
       Beispiel, was hörte sie, was roch sie, wenn sie aus einem Bahnhof trat.
       
       Dabei erfährt man auch Überraschendes, etwa dass die Berliner Theater auch
       im Ersten Weltkrieg boomten. Zu Orskas Glanzrollen als sehr junge
       Schauspielerin, knapp über zwanzig, gehört am Theater an der Königgrätzer
       Straße die Titelrolle [5][in „Lulu“ von Frank Wedekind], für die sie 1916
       und 1917 in Berlin bewundert wird – eine Kunstfigur, zwischen Kindfrau und
       Femme fatale schillernd, den Männern die Fantasien gebend, die sie am
       meisten begehren und am meisten fürchten.
       
       Ähnlich fantasmatisch ist die Salome [6][im Stück von Oscar Wilde]
       angelegt, eine weitere Glanzrolle. Das Unkalkulierbare dieser
       männermordenden Charaktere war ein lautes Element in der Bewegung des
       Aufbrechens von bürgerlichen Rollenbildern. Sie gaben die Brille vor, durch
       die die Künstlerinnen, die sie verkörperten, auch in ihrem Leben betrachtet
       wurden. Da wurde ein Möglichkeitsraum geöffnet, in dem zu spielen aber
       kräftezehrend war.
       
       ## Schwärmerischer Ton
       
       Overhage zitiert aus vielen Theaterkritiken, die neben schönen Fotografien
       oft das einzige Zeugnis sind, das von der Kunst der Schauspielerin
       geblieben ist. Die expressive, schwärmerische und pointierte Sprache der
       männlichen Rezensenten, unter ihnen Alfred Kerr, vermittelt allerdings oft
       vor allem ein Bild von deren Empfindungen zu Orska. Dass sie mitreißen
       konnte, wird deutlich. Aber wie ihr das gelang? Da muss die eigene Fantasie
       aushelfen. Kritiken sind eben doch sehr zeitgebundene Gebrauchstexte.
       
       Mit dem Erfolg wird das Leben von Maria Orska auch komplizierter.
       Zwielichtige Lebemänner als Liebhaber und Ehemann machen es nicht leichter.
       Overhage hat Spielpläne durchforstet, so wird plastisch, wie dicht die
       Aufführungen aufeinanderfolgten, wie schnell geprobt wurde, wie wenig Zeit
       auf Tourneen war. Das alles mit gesellschaftlichen Auftritten zu verbinden,
       Spaß auf der Rennbahn und beim Autorennen, durchgemachte Nächte in
       angesagten Kaschemmen, verlangte eine ungeheure Energie. Man ahnt es,
       Rauschgifte kamen ins Spiel, um das alles durchzuhalten.
       
       1930, in dem Jahr, in dem sie starb, hatte Maria Orska anscheinend den
       Überblick über ihre Engagements verloren. In Berlin und in Wien gefragt,
       verließ sie Berlin fluchtartig während der Proben und spielte in Wien bis
       zu einem Zusammenbruch.
       
       Dass sie vergessen wurde, liegt nicht nur an diesem abrupten Ende ihrer
       Karriere und ihres Lebens. Sondern mehr noch daran, dass der aufziehende
       Faschismus kein Interesse an dem Gedenken an jüdische Künstler hatte. Deren
       Wiederentdeckung folgte oft erst in der Nachkriegszeit. Es ist schön, dass
       jetzt auch ein Buch an Maria Orska erinnert.
       
       12 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Archiv-Suche/!864160&s=Hebbel+Kaufmann&SuchRahmen=Print/
   DIR [2] /Buch-zur-Berliner-Theatergeschichte/!5673414
   DIR [3] /Cineastisches-Experiment/!5628989
   DIR [4] /Archiv-Suche/!1670302&s=Fritz+Kortner&SuchRahmen=Print/
   DIR [5] /Lulu-in-der-Berliner-Volksbuehne/!5596697
   DIR [6] /Michael-Bracewell-ueber-Kunst-und-Brexit/!5471367
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
       ## TAGS
       
   DIR Theater
   DIR Geschichte
   DIR Schwerpunkt Erster Weltkrieg
   DIR Schauspielerin
   DIR Berlin
   DIR Wien
   DIR Stummfilm
   DIR Frank Wedekind
   DIR Biografie
   DIR Studie
   DIR Justiz
   DIR Walter Benjamin
   DIR Operette
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Neues Biopic über Emily Brontë: Spürt die Pheromone, wie sie funken
       
       Oh, verbotene Liebe, ihre Flammen lodern im Spielfilm „Emily“. Doch leider
       zeichnet Frances O'Connor das Bild von Emily Brontë mit zu viel Klischee.
       
   DIR Neuauflage einer Studie von Hannah Arendt: Gerechtigkeit für Rahel Varnhagen
       
       Vor 250 Jahren wurde eine Autorin geboren, die doppelt gelitten hat. Unter
       den Männern, die sie erklärt, und den Frauen, die sie verkitscht haben.
       
   DIR Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit: Ein Stoß ins Herz
       
       Unlängst wurde ihr Roman „Effingers“ wiederentdeckt. Nun lohnen die
       Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit die Lektüre.
       
   DIR Neue Biografie über Walter Benjamin: Immer radikal, niemals konsequent
       
       Stunden und Tage tiefster Verstimmung: Howard Eilands und Michael W.
       Jennings’ monumentale Walter-Benjamin-Biografie ist auf Deutsch erschienen.
       
   DIR Buch zur Berliner Theatergeschichte: Morgen geht’s uns gut
       
       Sie galten als die Theaterkönige von Berlin und wurden als Juden verfolgt:
       Fritz und Alfred Rotter. Von ihrem Leben erzählt der Autor Peter Kamber.