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       # taz.de -- Opposition in Russland: Kampf um das Recht auf Existenz
       
       > In Russland wird die Luft für kritische Stimmen dünner. Ein Journalist
       > hat eine Liste der Repressalien vorgelegt – über 140 Eingriffe in einem
       > Monat.
       
   IMG Bild: Proteste für Nawalny: Die Staatsmacht ist immer schon da, wie hier in Chabarowsk im April 2021
       
       Moskau taz | Ilja Asar ist Abgeordneter eines Stadtteilparlaments in Moskau
       und Journalist. Im April stellte er auf der Website Mediazona eine „Chronik
       der Repressionen“ für den vergangenen Monat zusammen. Mehr als 140
       Eingriffe der Sicherheitsorgane sowie Drohungen und Einschüchterungen kamen
       in ganz Russland zusammen.
       
       Darunter findet sich etwa eine Durchsuchung der Redaktion der Zeitung
       Waschnije istorii. Ein Radiosender, Radio Swoboda, muss 71 Millionen Rubel
       Strafe entrichten. Und die „Allianz der Ärzte“ wurde zu 180.000 Rubel
       verurteilt, weil einige ihrer Mitglieder vor dem Straflager in Pokrow vor
       dem IK-2 Gefängnis demonstrierten, in dem [1][der Oppositionelle Alexei
       Nawalny] einsitzt.
       
       500.000 Rubel Strafe muss ein Arzt aus dem Ural für Kommentare in sozialen
       Medien entrichten. Auch die Mitarbeiter der Studentenzeitschrift Doxa
       wurden mit Ausgangsverbot und Hausarrest belegt.
       
       Für zweieinhalb Jahre in eine Strafkolonie muss Andrej Borowikow. Der
       Mitstreiter Nawalnys hatte ein Video der deutschen Band Rammstein
       verbreitet. 2014 soll er einen Clip mit dem Lied Pussy im russischen
       Netzwerk VKontakte gepostet haben. Das Video löste damals wegen des
       pornografischen Inhalts einen Skandal aus.
       
       ## Ausflüge nach Moskau
       
       Rammstein hat sich zu dem Prozess gegen Borowikow nicht geäußert und nicht
       auf Anfragen aus dem Umfeld Borowikows reagiert. Rammstein-Frontmann Till
       Lindemann genießt unterdessen seine Ausflüge nach Moskau, wo er gerade den
       russischen Song Lieblingsstadt – „Ljubimij Gorod“ – veröffentlichte.
       „Kunstfreiheit sei ein Grundrecht aller Menschen“, schrieb Gitarrist
       Richard Kruspe. Rammsteins Nonkonformismus scheint aber nur Attitüde zu
       sein. Der Oppositionelle Borowikow ist enttäuscht über die ausbleibende
       Unterstützung.
       
       Journalisten, [2][Künstler] und Schauspieler in Russland leben seit Langem
       in unruhigen Zeiten. In Moskau hat die Polizei kürzlich eine Premiere des
       Theaters Dok aufgelöst. Kurz nach Beginn der Aufführung mussten
       Schauspieler und Besucher wegen einer vermeintlichen Bombendrohung das
       Theater verlassen.
       
       Thema waren die Ereignisse im Nachbarland Belarus, wo Präsident Alexander
       Lukaschenko im vergangenen Sommer eine Wahl hatte fälschen lassen. Die
       Systeme in Minsk und Moskau gleichen sich langsam an.
       
       Trotz der permanenten Übergriffe und Rechtsverstöße hat die Festnahme des
       Anwalts Iwan Pawlow vergangene Woche für einen Aufschrei gesorgt. Mehr als
       80 Schriftsteller und Journalisten haben mit einem [3][offenen Brief] gegen
       die Festsetzung protestiert. Iwan Pawlow darf weder Internet noch
       Mobiltelefon nutzen.
       
       ## Vorwurf Hochverrat
       
       Im Sommer hatte Pawlow die Verteidigung des Journalisten Iwan Safronow
       übernommen. Der Militärspezialist arbeitete bei der Zeitung Kommersant,
       wechselte dann jedoch zur Raumfahrtbehörde Roskosmos. Safronow, der vor
       zehn Monaten festgenommen wurde, wird Hochverrat vorgeworfen.
       
       Pawlow ist Chef des Rechtsschutzprojekts Komanda 29 und einer der
       bekanntesten Bürgerrechtsanwälte. Er übernimmt auch heikle Fälle, in denen
       der Geheimdienst mitmischt und es um „Staatsverrat“ geht. Am Freitag soll
       er erstmals Safronow vor Gericht vertreten.
       
       Doch Kollegen befürchten, dass ihm die Anwaltslizenz entzogen wird. Er hat
       sich geweigert, dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB eine
       Verschwiegenheitserklärung auszuhändigen. Die Aberkennung von Lizenzen wird
       auch in Belarus praktiziert. Dort haben Anwälte nach der Verteidigung von
       Demonstranten ihr Vertretungsrecht verloren.
       
       Auch für das Internetmedium Meduza wird die Luft dünn. Seit Kurzem gilt es
       als „ausländischer Agent“. Das Magazin hat seinen Sitz in Lettland, doch
       etwa die Hälfte der 60 Mitarbeiter arbeiten von Russland aus. In dieser
       Härte hätte er den Schlag nicht erwartet, meint Chefredakteur Iwan Kolpakow
       gegenüber der taz. Werbekunden wendeten sich ab, weil niemand mit einem
       „ausländischen Agenten“ zu tun haben wolle.
       
       Die Opposition habe für den Kreml das „politische Recht auf Existenz“
       verloren, meint die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja von der
       Carnegie-Stiftung. Neben Meduza sind weitere 18 Medien oder Personen als
       ausländische Agenten gelistet. „Ein starkes und unabhängiges Medium ist
       heute unmöglich in Russland“, sagt Chefredakteur Kolpakow.
       
       5 May 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Opposition-in-Russland/!5768490
   DIR [2] /LGBT-Aktivistin-in-Russland-in-Haft/!5765079
   DIR [3] https://svobodnoeslovo.org/2021/05/02/nasha-podderzhka-pavlovu-i-komande-29/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
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