URI: 
       # taz.de -- Premiere-Streaming im Burgtheater: Der Haifisch trägt Prothese
       
       > Bunt gewandete, neoliberale Milieustudie: Johan Simons inszeniert am
       > Wiener Burgtheater „Richard II.“ von William Shakespeare.
       
   IMG Bild: Szene aus Shakespeares „Richard II.“ in der Inszenierung von Johan Simons
       
       Die Welt ist eine Schachtel und das Theater hat die vierte Wand wieder. Sie
       misst genau 13,3 Zoll in der Diagonale und hat einen dunklen Rand.
       Kontrastmindernde Fingerabdrücke lassen sich mit einem Mikrofasertuch gut
       entfernen.
       
       Das Wiener Burgtheater streamt der treuen Kundschaft, die den Newsletter
       des Hauses abonniert hat, Johan Simons’ mehrfach verschobene Inszenierung
       von Shakespeares „Richard II.“ auf den Bildschirm. Das Incentive soll die
       Wartezeit bis 19. Mai verkürzen. Zu diesem Datum stellt das
       Pandemiemanagement der österreichischen Bundesregierung den Teilbetrieb der
       Theater wieder in Aussicht.
       
       Der Link öffnet in der Totalen den Blick auf eine helle kniehoch umrandete
       Spielfläche nach Art eines riesigen umgedrehten Schuhkartondeckels. Greta
       Goiris kleidet das spätere Personal darauf, das sich zunächst noch am Rand
       des Spielfelds sitzend bereit hält, in Farbakzenten und geometrischen
       Vereinfachungen zu einem Satz gut aufeinander abgestimmter
       Brettspielfiguren. Ein Angebot der Abstraktion, das im Geschehen der
       folgenden 150 Minuten nicht wirklich aufgenommen wird.
       
       Johannes Schütz hat dazu passend Podeste mit übermannshohen Brüstungen
       ineinander schieben lassen. Riesenstühle, die keinen Halt bieten, weil ihre
       Lehnen nur als Rahmen ausgeführt sind. Sie werden im Fortgang der Handlung
       heftig verrückt, stürzen zum bösen Ende um, auch wenn nur gedanklich an
       ihnen gesägt wird. Sie sind Podium, Schafott, Rednertribüne und Baldachin
       für die Haupt- und Staatsaktion.
       
       ## Das Duell zweier Edelleute
       
       Die beginnt mit dem Duell zweier Edelleute, Mowbray (Günther Eckes) und dem
       späteren König Heinrich Bolingbroke (Sarah Viktoria Frick). Was einer dem
       anderen vorwirft – Veruntreuung von Steuergeldern und Verrat gegen den
       König –, reicht locker für einen Untersuchungsausschuss, muss aber nach
       hochmittelalterlicher Sitte im Turnier ausgefochten werden.
       
       Statt die Lanze zu führen knurren die Kombattanten einander an wie
       Kampfhunde. Die „Hetz“, wie man in Wien aus der verblassten Erinnerung der
       Sprache an die im 18. Jahrhundert populären Tierhetzen noch immer sagt,
       kann beginnen.
       
       Darüber präsidiert Richard II. (Jan Bülow), in seinen Dreißigern noch der
       eitel-verwöhnte Kinderkönig, wie über eine Schulhofrauferei. Eine Art
       Etonian, der den Saufeskapaden in Boris Johnsons Oxforder Studentenclub
       gerade entwachsen ist, aber schon in leitender Funktion dilettiert.
       Herrschaft als prank, der Staat als Beute. Im neoliberalen Milieu, dem
       Gemeinnutz verdächtig ist und private Gier auf wundersame Weise die
       öffentliche Wohlfahrt fördern soll, gerät Politik zur
       Bereicherungsmöglichkeit auf Zeit.
       
       Die nutzt Richard exzessiv, verbannt die Kombattanten, reißt sich in
       feindlicher Übernahme Bolingbrokes Vermögen an Land und Leuten unter den
       Nagel, seine Hofhaltung und seinen Krieg zu befördern. Shareholder value
       auf Kosten der feudalen Verpflichtungen gegenüber den Stakeholdern. Das
       Ganze läuft ab wie eine zeitgenössische Börsenwette.
       
       ## Er ist ein Charakter, hat also keinen
       
       Er „shortet“ Bolingbroke, stürzt ins Bodenlose, als dieser wiederkehrt und
       die Aktie wieder steigen lässt. Das Seelenheil, im Untergang verspätet,
       aber doch das Wesentliche zu erkennen, bleibt diesem Richard verweigert.
       Er ist ein character, hat also keinen. Das mag auch daran liegen, dass der
       sich einem Zeitgeist anverwandelnde Ton der Übersetzung von Thomas Brasch
       nun auch schon in die Jahre kommt.
       
       Gehalten wird der Abend über weite Strecken von zwei Flügelspieler:innen.
       Martin Schwab als John Gaunt, Strippenzieher bei Hofe und Vater des
       kommenden Königs, referiert den ideologischen Teil, Shakespeares Rede vom
       englischen Exzeptionalismus und der glückhaften Insellage, die vor Krieg
       und Ansteckung (!) schützt.
       
       Das macht die „Historie“ erst historisch. Es zeigt Bestehendes als –
       keineswegs zwangsläufig – Gewordenes. Schwab ist hier Monument in eigener
       Sache, Zeuge einer Zeit, in der Theater um andere Einsätze spielte, als die
       Zirkulation alltäglicher Tauschwerte es vermag.
       
       Stacyian Jacksons Königin Isabel leidet nicht nur wie die üblichen
       Shakespeare-Frauen. Sie teilt mit Richard Textpassagen, spiegelt ihn,
       kommentiert ihn, umspielt ihn, teilt mit ihm den Anachronismus einer
       modernen Paar-Intimität. Die Gegenwärtigkeit ihres Spiels stört gerade die
       stereotype Übereinkunft des Zeitgenössischen.
       
       ## Ein Versuch den blinden Feck zu reflektieren
       
       Johan Simons gibt ihr, der person of color, die ersten Worte, die den Blick
       auf die Aufführung fokussieren. Ein Versuch, zumindest einmal durch den
       blinden Fleck zu tauchen, aus dem heraus das männlich-weiße Subjekt seit
       Shakespeare die Welt nicht nur verändert, sondern auch interpretiert.
       
       Interessantes geschieht auch, wenn man so will, im Strafraumzentrum bei
       Sarah Viktoria Frick. Sie spielt Bolingbrokes Hosen, die nicht die ihren
       sind, in einer aus der Reflexion gewonnenen körperlichen Distanzierung,
       entwickelt darin einen fast puppenspielhaften Gestus, der die Figur in der
       Reduktion überhöht.
       
       Frick gibt Ausblick auf ein Theater, in dem Körper ein Zeichensystem
       hervorbringen, das sich über das Vorurteil visueller Übereinstimmungen
       erhebt. Vom Kasperltheater lernen, hieße hier siegen lernen. Der Rest ist
       Steh- und Stadttheater.
       
       7 May 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Mattheiß
       
       ## TAGS
       
   DIR Theater
   DIR Burgtheater Wien
   DIR William Shakespeare
   DIR Thalia-Theater
   DIR Oper
   DIR Burgtheater Wien
   DIR Digital
   DIR taz.gazete
   DIR Wien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Absurder Klassiker im Hamburger Theater: Die Kunstkacke ist am Dampfen
       
       Regisseur Johan Simons zeigt Alfred Jarrys „Ubu“ am Hamburger Thalia
       Theater als eine Herrschaft des Vulgären. Das Ergebnis ist zahn- und
       ziellos.
       
   DIR Otello-Remake-Oper in Dortmund: Partitur im Abgrund
       
       In Dortmund ist die Oper „Der Hetzer“ mit Musik von Bernhard Lang zu sehen.
       Er überschreibt Verdis „Otello“ nach Shakespeares Drama.
       
   DIR Neue Bernhard-Inszenierung in Wien: Tapetentüren des Unbewussten
       
       Keine Seelen, kein Drama – nur Sprache. Lucia Bihler inszeniert am Wiener
       Akademietheater Thomas Bernhards Frühwerk „Die Jagdgesellschaft“.
       
   DIR 38. Heidelberger Stückemarkt: Die tägliche Wiederholung
       
       Die Welt im Schrumpfungsmodus: Der Heidelberger Stückemarkt zeigt ein
       Programm, das sich erstaunlich gut auf die Gegenwart beziehen lässt.
       
   DIR Audiowalk im Wiener Volkstheater: Erkundungen im Sperrbezirk
       
       Ganz allein auf der Bühne stehen: Stefan Kaegi ermöglicht mit „Black Box“
       einen pandemietauglichen Besuch im frisch renovierten Volkstheater.
       
   DIR Theater-Horrortrip ins rechte Milieu: Zombies mit Schmiss
       
       Unter den Bändern der Korporierten faulen die Geschwüre. Lydia Haiders „Am
       Ball“ am Wiener Schauspielhaus ist ein Horrortrip ins rechte Milieu.