URI: 
       # taz.de -- Fotoprojekt über „Kreuzberger Mischung“: Remixing Kreuzberg
       
       > Auf dem Dragonerareal wird die Berliner Mischung neu erfunden.
       > Ann-Christine Janssons Fotos zeigen Hoffnungen und Ängste, die damit
       > verbunden sind.
       
   IMG Bild: Matteo sagt: „Seit der Coronapandemie gehe ich auf das Dragonerareal und höre Podcast“
       
       Berlin taz | Alle lieben sie, aber keiner traut sich. Was in den
       Kreuzberger Hinterhöfen einmal Alltag war – Wohnen und Arbeiten auf engstem
       Raum – verbietet heute die Bauordnung. Der Lärm!
       
       Gleichwohl taucht das Wort Mischung (wahlweise als Berliner oder als
       Kreuzberger) heute in jedem Exposé von Investoren auf. Es ist ein Modewort
       geworden und damit auch ein Allerweltsbegriff. Jeder, der das Wort benutzt,
       mischt sich seine Mischung selbst. Hauptsache, es sieht nicht nach
       Homogenität aus, denn die gilt als langweilig.
       
       Wer wissen will, was Mischung meinte, bevor es zum Modewort wurde, sollte
       einen Blick auf die Fotografien von [1][Ann-Christine Jansson] vom
       Kreuzberger Dragonerareal werfen. Jansson zeigt die, die schon lange nicht
       mehr vorkommen, wenn es um gemischte Quartiere geht. Kfz-Mechaniker,
       Künstler mit wenig Geld und viel Platzbedarf, Betreiberinnen von [2][Clubs
       wie dem „Gretchen“]. Vor allem bei Autoschraubern und Clubs heißt es
       schnell: „störendes Gewerbe“. Auf dem 4,7 Hektar großen Gelände am
       Mehringdamm und an der Obentrautstraße in Kreuzberg gehört es dazu.
       
       Wer das Dragonerareal von der Obentrautstraße her betritt, steht vor einem
       der denkmalgeschützten Gebäude. Es sind ehemalige, wenn auch umgebaute
       Pferdeställe der historischen Garde-Dragoner-Kaserne. Am Finanzamt, dem
       eigentlichen Kasernengebäude, erinnert eine Gedenktafel daran, dass während
       der Novemberrevolution Soldaten der beiden in der Kaserne stationierten
       Garde-Dragoner-Regimente sieben Besetzer des Vorwärts-Gebäudes in der
       Lindenstraße ermordet hatten. Was für eine Rolle vorwärts: Mehr als hundert
       Jahre nach Revolution und Gegenrevolution soll auf dem einstigen
       Kasernengelände eines der zivilsten, weil basisdemokratischsten Projekte
       der Berliner Stadtentwicklung entstehen.
       
       ## Langwierig und mühsam
       
       Der Weg dahin, auch das sieht man auf den Fotografien von Ann-Christine
       Jansson, ist langwierig und mühsam. Wie jeder basisdemokratische Prozess
       bringt er auch eine Menge an Gremien hervor. Das ist zunächst das Forum
       Rathausblock, eine Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger, das alle zwei
       Monate tagt und niedrigschwelliger Einstieg wie Austauschplattform
       gleichermaßen ist. Wer thematisch tiefer einsteigen will, kann in eine der
       vielen Arbeitsgruppen gehen. Das Gremium, in dem am Ende die Entscheidungen
       getroffen werden, ist der Zukunftsrat.
       
       Demokratie ist anstrengend, und manchmal tut sie auch weh, weil auch die
       beste Abstimmung Verliererinnen und Verlierer hervorbringt. Auch das sieht
       man auf den Fotografien von Jansson: Menschen, die sich Sorgen um ihre
       Zukunft machen. Denn natürlich wissen sie, dass es eng wird auf dem
       Gelände. Laut dem im Januar 2020 gekürten städtebaulichen Entwurf des
       Architekturbüros „Smaq Architektur und Stadt“ und „Man Made Land“ sollen
       auf dem Dragonerareal 525 neue, bezahlbare Wohnungen gebaut werden.
       
       Wohnen und Gewerbe? Geht das? Und was ist mit dem Lärm?
       
       Schon in den Monaten vor dem städtebaulichen Wettbewerb waren sich die
       Beteiligten darüber einig geworden, die Nutzung auf dem Gelände neu zu
       verteilen. Das Gewerbe sollte in den Norden Richtung Obentrautstraße
       ziehen, der Wohnungsbau vor allem im Süden Richtung Yorckstraße hin
       realisiert werden. Dazwischen sollte eine Art Lärmwand als Puffer
       entstehen.
       
       Mit der Entscheidung für den Entwurf von [3][„Smaq Architektur und Stadt“]
       und „Man Made Land“ sind diese Überlegungen konkreter geworden. „Urbane
       Fabrik“ heißt das Zauberwort. Die Kfz-Werkstätten sollen in einem
       Gewerberiegel untergebracht werden, der unmittelbar hinter den
       denkmalgeschützten Pferdeställen an der Obentrautstraße errichtet werden
       soll. Eine Art lärmschützende Käseglocke soll also über die Autoschrauber,
       den Club und ihr „störendes Gewerbe“ gestülpt werden.
       
       Die Urbane Fabrik ist eine der Vorzeigeideen, mit denen die Kreuzberger
       Mischung neu erfunden werden soll. Das zweite ist ein Wohnhochhaus mit 16
       Stockwerken. Wenn nicht genügend Platz in der Fläche da ist, heißt es auch
       auf dem Dragonerareal: hoch hinaus. Um das Hochhaus soll das neue
       Quartierszentrum entstehen. Manchmal bedeutet Mischung eben auch: Alles
       wird anders, damit diejenigen, die da sind, bleiben können.
       
       Es ist ein Experiment. Und hört man dem zu, was die Beteiligten erzählen,
       spürt man auch die Angst davor, dass es scheitern kann.
       
       Offene Fragen gibt es viele: Werden die neuen Mieterinnen und Mieter die
       Mischung zu schätzen wissen und das bisschen Lärm, das bleibt, ertragen?
       Oder werden sie, die keiner gefragt hat, das Experiment im Nachhinein zu
       Fall bringen? Wie viel Stadt steckt in der neuen Mischung und wie viel
       Dorf?
       
       Ann-Christine Janssons Fotografien sind eine Momentaufnahme. Das Festhalten
       eines ungewissen Zustands. Nicht mehr und noch nicht. Aber Kreuzberg hat
       sich getraut. Die Karten im Quartier werden neu gemischt.
       
       8 May 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.jansson-photography.com/
   DIR [2] https://www.gretchen-club.de/
   DIR [3] https://www.smaq.net/kontakt/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Rada
       
       ## TAGS
       
   DIR Dragoner-Areal
   DIR Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin
   DIR Berlin-Kreuzberg
   DIR Bürgerbeteiligung
   DIR Bauen
   DIR Clubsterben
   DIR Haus der Statistik
   DIR Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
   DIR Mieten
   DIR Wohnungsbau
   DIR Berlin
   DIR Haus der Statistik
   DIR Club Commission
   DIR Dragoner-Areal
   DIR Dragoner-Areal
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Bauprojekte von unten in Berlin: Haus der Statistik als Vorbild?
       
       Ins Haus der Statistik am Alexanderplatz ziehen die ersten Nutzer ein. Auf
       dem Dragonerareal dagegen herrscht weitgehend Stillstand. Woran liegt es?
       
   DIR Abriss startet auf dem Dragonerareal: Bauen auf die sanfte Art
       
       Jahrelang wurde diskutiert und geplant, nun geht es los. Auf einem ersten
       Baufeld will die Wohnungsbaugesellschaft Mitte 240 Wohnungen bauen.
       
   DIR Neue Berliner Stiftung: Dem Markt entziehen
       
       Die Stadtbodenstiftung will Raum schaffen für soziale Wohnprojekte und
       Urban-Gardening-Anlagen – und Verdrängung durch reiche Investoren
       unterbinden.
       
   DIR Novelle der Berliner Bauordnung: Mehr Grün, weniger Flächenverbrauch
       
       Noch vor den Wahlen soll die Berliner Bauordnung novelliert werden. Doch
       nun gibt es plötzlich Streit um den Entwurf von Bausenator Sebastian
       Scheel.
       
   DIR Umgestaltung des Alexanderplatzes: Kein Werk der SED
       
       Aufhalten möchte sich am Berliner Alexanderplatz kaum jemand. Nun soll der
       südliche Teil umgestaltet und Besucher:innen-freundlicher werden.
       
   DIR Kreativprojekt in Berlin: Geld für neue Ideen
       
       Berlin erhält vom Bund 3,3 Millionen Euro für das Haus der Statistik. Das
       Geld soll helfen, den Initiativen eine Zukunft vor Ort zu ermöglichen.
       
   DIR Clubcommission-Vorsitzende im Interview: „Im Club geht es auch um Exzess“
       
       Ein wenig Streamen geht noch, aber da fehlt die Körperlichkeit. Erst Ende
       2022 wird es wieder normales Clubleben geben, meint Pamela Schobeß.
       
   DIR Dragoner-Areal in Kreuzberg: Utopisten machen Stadt
       
       Aktivisten und Politik sind sich einig: Das Dragoner-Areal soll ein
       modellhaftes Stadtquartier werden, mit 100 Prozent bezahlbarem Wohnraum.
       
   DIR Umkämpftes Grundstück in Kreuzberg: Das Land darf jetzt dragonern
       
       Der Bund übergibt das Dragonerareal dem Land. Damit ist der Weg frei für
       eine sozial ausgewogene Bebauung – und vielleicht sogar für Hochhäuser.