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       # taz.de -- Auf der A24 von Hamburg nach Berlin: Alles in Maaßen am 8. Mai
       
       > Was eine Autobahnfahrt durch Brandenburg mit dem Tag der Befreiung und
       > dem Ex-Präsidenten des Verfassungsschutz zu tun haben. Unser Autor klärt
       > auf.
       
   IMG Bild: An den 8. Mai 1945 wird auch 2021 mit Veranstaltungen gedacht (hier Deutsch-Russisches Museum)
       
       „Stunde Null“ und „Nie wieder!“ waren meine ersten Assoziationen, als ich
       erfuhr, dass mein nächster Text am symbolträchtigen 8. Mai erscheinen wird.
       Fast zeitgleich kürte die CDU in Süd-Thüringen den Rheinländer und
       Wahlberliner Hans-Georg Maaßen zu ihrem Direktkandidaten für den Bundestag.
       Als eines der Gesichter der Werteunion gehört der ehemalige Chef des
       Verfassungsschutzes zu denen, die schamlos mit dem äußerst rechten Rand
       flirten.
       
       Verdammt, dachte ich, wieder nutzt ein Wessi Ostdeutsche aus, um sich eine
       neue berufliche Karriereoption zu verschaffen, und nährt dabei das Klischee
       vom radikal rechten Osten.
       
       Ausgerechnet Thüringen. Jenes Bundesland, in dem 1994 der Westimport Helmut
       Roewer Präsident des Verfassungsschutzes werden durfte. Während sich seine
       Behörde ausgiebig dem Kampf gegen Linksextremisten widmete, wuchs und
       gedieh in seiner Amtszeit die rechtsextreme Szene – auch mit Geld des VS,
       der NSU entstand. Heute ist Roewer seinen Job längst los, schreibt für das
       Compact-Magazin und andere neurechte Medien. Ein Antifa-Schelm, wer Böses
       dabei denkt.
       
       Irgendwann in den nuller Jahren fuhr ich gemeinsam mit einem Freund von
       einem Hamburgtrip zurück nach Berlin. Zwei Nicht-Almans auf dem Heimweg. Es
       war Anfang Mai, die Dämmerung setzte langsam ein. Rund 100 Kilometer vor
       Berlin war der Tank leer. Gerade noch so erreichten wir einen einsamen und
       verlassenen Rastplatz, mitten in Brandenburg. Sofort scannten wir
       reflexhaft den Ort. Nicht auf der Suche nach einer Sitzgelegenheit, sondern
       nach dem besten Fluchtweg.
       
       ## Als wenn es einstudiert wäre
       
       Es lief ganz automatisch, als wenn wir’s einstudiert hätten: Wortlos
       knieten wir uns nieder, zogen die Schnürsenkel fest, für den Fall,
       losrennen zu müssen. Mein Kumpel öffnete sein Handschuhfach, holte ein
       Springmesser raus und steckte es sich in die Jackentasche.
       
       Mit krimineller Energie hat er genauso viel zu tun wie Horst Seehofer mit
       Antirassismus. Waffen dieser Art etablierten sich schon in den neunziger
       Jahren in allen möglichen migrantischen Kreisen, als die braune Suppe
       hochkochte, nicht nur in Ostdeutschland. Für die einen waren es
       Baseballschlägerjahre, für die anderen sind es seitdem
       Springmesserjahrzehnte.
       
       Hilfe kam schneller als erhofft. Zwei Stunden später waren wir wieder zu
       Hause. Trotzdem können wir diesen Moment bis heute nicht vergessen. Wenige
       Tage darauf, es war der 8. Mai, trafen mein Kumpel und ich uns mit
       Freunden. Wir waren bestimmt ein Dutzend Leute, mit und ohne
       Migrationshintergrund, aus Ost und West. Unsere Geschichte war schnell
       Thema. Einer löste in der Runde mit der Anmerkung Kopfnicken aus, wie
       traurig und armselig es sei, sich Jahrzehnte nach dem Ende des Dritten
       Reichs und dem vermeintlichen Neustart solche Sorgen machen zu müssen.
       
       Maaßen wurde 2012 Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz. Er folgte
       auf Heinz Fromm, der gehen musste, weil in seinem Amt wie von Zauberhand
       stapelweise NSU-Akten vernichtet wurden. Der Neue sollte verlorengegangenes
       Vertrauen zurückgewinnen. Das gelang ihm nicht. Jedenfalls nicht bei meinen
       Freunden und mir und auch nicht bei Millionen anderen Menschen. Aus
       heutiger Sicht wäre es wohl kaum vermessen zu behaupten, es wollte ihm
       nicht gelingen.
       
       ## Baseballschläger im Kofferraum
       
       Ein knappes Jahrzehnt später gibt es wesentlich mehr offene als
       beantwortete Fragen zum NSU und anderen rechtsextremen Aktivitäten, in die
       mutmaßlich auch Staatsbeamte verwickelt waren oder sind. 2018 verlor Maaßen
       dann endlich seinen Schlapphut, als er die rechtsextremen Ausschreitungen
       in Chemnitz relativierte.
       
       Seit der Autogeschichte staune ich jedes Jahr (nicht nur) am 8. Mai, wie
       immer noch zu wenig „Stunde null“ und „Nie wieder!“ in zu vielen Behörden
       der Bundesrepublik stecken. Denn jedes Jahr werden neue Fälle bekannt, die
       das Gegenteil von beidem vermuten lassen.
       
       Ein Jahr nach Maaßens Amtsantritt beim Verfassungsschutz stellte der
       NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags seinen Abschlussbericht vor. Auf
       der Pressekonferenz sagte der Vorsitzende: „Für das Vertrauen in den
       Rechtsstaat kommt es darauf an, dass dieser zwei Versprechen glaubhaft
       jedem gegenüber, der in diesem Land lebt (…) aussprechen kann. Das erste
       Versprechen ist, dass die dafür zuständigen Sicherheitsbehörden alles tun,
       was ihnen möglich ist, um hier lebende Menschen vor Verbrechen (…) zu
       schützen. Und das zweite Versprechen ist, dass (…) die dafür zuständigen
       Ermittlungsbehörden alles dafür tun, dass unvoreingenommen in alle
       Richtungen schauend und professionell Aufklärungsarbeit betrieben wird.
       Mein Befund ist: Beide dieser zentralen Versprechen im Rechtsstaat sind
       gegenüber den Opfern des NSU gebrochen worden.“
       
       Acht Jahre später, fast 15 Jahre nach der Rastplatz-Erfahrung und 76 Jahre
       nach dem 8. Mai 1945, hat mein Kumpel inzwischen einen Baseballschläger im
       Kofferraum.
       
       8 May 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bobby Rafiq
       
       ## TAGS
       
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