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       # taz.de -- Protest der Pflegebranche in Berlin: Keine Kraft mehr
       
       > Zum Tag der Pflegenden haben Beschäftigte von Vivantes und Charité den
       > Arbeitskampf organisiert. Sie fordern mehr Personal – und drohen mit
       > Streik.
       
   IMG Bild: Klatschen während der Pandemie hilft nicht: Die Pflegenden fordern Arbeitsverbesserungen
       
       Berlin taz | Unterbesetzung, schlechte Bezahlung, Corona – den
       Pflegekräften der landeseigenen Krankenhausgesellschaften Charité und
       Vivantes reicht es. „Die Kolleg:innen haben schon lange keine Kraft
       mehr, aber die Pandemie [1][hat das Fass zum Überlaufen gebracht]“, sagt
       etwa Jeannine Sturm, Intensivpflegekraft an der Charité, auf einer
       Pressekonferenz der Berliner Krankenhausbewegung. Pünktlich zum
       Internationalen Tag der Pflege am Mittwoch haben sich die Beschäftigen bei
       Verdi organisiert, um in den Tarifkampf einzutreten.
       
       Zum Auftakt soll am Mittwoch um 16 Uhr vor dem Roten Rathaus eine
       Unterstützungspetition an den Senat übergeben werden. Darin solidarisiert
       sich die Mehrheit der Beschäftigten einer jeden Station der Krankenhäuser
       mit den Forderungen der Bewegung. Die Übergabe gibt auch den Startschuss
       für ein an Klinikleitungen und Senat gestelltes Ultimatum: 100 Tage haben
       sie Zeit, den Forderungen der Beschäftigten nachzukommen. Geschieht das
       nicht, droht wenige Wochen vor den Wahlen des Abgeordnetenhauses ein Streik
       in den beiden größten Berliner Krankenhäusern.
       
       Konkret will die Krankenhaus-Bewegung einen „Tarifvertrag Entlastung“ für
       die Pflegekräfte erreichen. Dieser zielt auf die Vermeidung von
       Schichtunterbesetzungen ab. Im Vertrag würden Mindestbesetzungen für jede
       Station definiert. Werden diese unterschritten, würde das künftig durch das
       Dienstprogramm vollautomatisch erfasst. Pflegekräften, die in
       Unterbesetzung gearbeitet haben, würde ein „Belastungsausgleich“ in
       Freizeit oder Geld gutgeschrieben. Dieser würde sich schrittweise erhöhen,
       sodass der Druck auf die Klinikleitungen, [2][mehr Personal einzustellen,]
       kontinuierlich ansteigt.
       
       ## Charité nicht ganz abgeneigt
       
       Zweitens will die Bewegung auch für die Angestellten der
       Vivantes-Tochterfirmen eine Bezahlung nach dem Tarifvertrag des
       öffentlichen Dienstes (TvöD) durchsetzen. Durch die Auslagerung von
       Arbeiten auf formal von Vivantes getrennte Tochterunternehmen würden
       Personalkosten „auf dem Rücken der Beschäftigten“ eingespart. Wie die
       Bewegung vorrechnet, handele es sich keineswegs um marginale Unterschiede:
       Nach TvöD bezahlt, würde etwa das Gehalt einer seit sieben Jahren bei der
       Firma Vivaclean angestellten Reinigungskraft um ganze 830 Euro monatlich
       steigen.
       
       Zumindest die Charité zeigt sich gegenüber den Forderungen nicht gänzlich
       abgeneigt. Auf taz-Nachfrage schreibt Pressesprecher Markus Heggen, man
       werde sich „intensiv“ mit Forderungen der Belegschaft auseinandersetzen.
       Diese müssten jedoch „die Strukturen der Pflege an der Charité“
       reflektieren.
       
       Deutlicher wurde dagegen Dorothea Schmidt, Geschäftsführerin für Personal
       bei Vivantes, am Dienstag: Die Forderungen seien „sowohl rechtlich als auch
       inhaltlich der falsche Weg“. Dem kommunalen Krankenhauskonzern sei es schon
       „formal untersagt, eigenständige Verhandlungen zu führen“. Hintergrund ist
       ein Beschluss der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA),
       nach dem Tarifverhandlungen nur für alle kommunalen Krankenhäuser gemeinsam
       möglich sind.
       
       ## „Wir erleben eine Berufsflucht“
       
       Meike Jäger, Verdi-Landesfachbereichsleiterin für Gesundheit und Soziales,
       widerspricht: „Es ist das gute Recht der VKA, Beschlüsse zu fassen – doch
       auch die Beschäftigten haben etwas beschlossen: Wir wollen verhandeln“,
       sagte sie der taz. Dies sei ein Fakt, mit dem die Krankenhausleitungen
       umgehen müssten.
       
       Für Dorothea Schmidt von Vivantes wären die Verdi-Forderungen „nur
       umsetzbar, indem weniger Patient:innen behandelt werden“. Ein
       Tarifvertrag Entlastung hätte also eine „deutliche Einschränkung der
       Versorgungskapazitäten“ zur Folge. Die Intensivpflegekraft Jeannine Sturm
       sieht hierin „emotionale Erpressung“. Nicht die Verdi-Forderungen, sondern
       die Unterbesetzungen würden „Patient:innen lebensgefährlich bedrohen“.
       
       Auch Jäger weist das Argument der mangelnden Fachkräfte zurück. „Wir
       erleben keinen Fachkräftemangel, sondern eine Berufsflucht“, sagte sie der
       taz. Tatsächlich kam etwa eine Studie der Arbeitnehmerkammer Bremen, auf
       die auch die Krankenhausbewegung hinweist, zu dem Schluss, dass die
       bundesweit fehlenden Pflegestellen ausgeglichen werden könnten – wenn sich
       die Arbeitsbedingungen verbesserten.
       
       ## Die Ökonomisierung des Gesundheitssystems
       
       Schließlich hätten die Verdi-Forderungen laut Eibo Krahmer, Geschäftsführer
       unter anderem für Finanzen bei Vivantes, Mehrkosten „in Höhe von rund 35
       Millionen Euro“ jährlich zur Folge. Vivantes schreibe aber bereits jetzt
       rote Zahlen. Müsste in allen Tochterunternehmen nach TvöD bezahlt werden,
       sei deren „Zukunft unmittelbar infrage gestellt“. Insbesondere betreffe
       dies die „Tochtergesellschaft Labor Berlin mit rund 430 eigenen
       Mitarbeitenden“.
       
       Jäger kann den „Druck“ durchaus verstehen, den der „Profitzwang“ auf die
       Klinikleitungen ausübe. Das Problem sei [3][die Ökonomisierung des
       Gesundheitssystems]. Gefragt ist am Ende also auch die Politik: Zwar kann
       Berlin rechtlich betrachtet nur Investitionsmittel und nicht etwa Geld für
       Pflegekräfte bereitstellen. „Eine vorübergehende Lösung könnte aber sein,
       dass das Land Berlin die möglicherweise entstehenden Defizite übernimmt“,
       so Jäger. Potsdam etwa habe das beim Ernst-von-Bergmann-Klinikum so
       gehandhabt.
       
       Vier Monate vor den Wahlen ist eigentlich ein guter Zeitpunkt, sich auf die
       Suche nach Lösungen zu begeben.
       
       12 May 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Timm Kühn
       
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