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       # taz.de -- Politologe zu Armut in Deutschland: „Der Bericht wird missbraucht“
       
       > Für den Politologen Butterwegge ist der Armuts- und Reichtumsbericht zu
       > unspezifisch: Reichtum würde darin nur sehr ungenau erfasst – weil es
       > nicht gewollt sei.
       
   IMG Bild: Reiche zur Kasse bitte: Kühne Forderung eines Demonstranten in Berlin im September 2020
       
       taz: Herr Butterwegge, [1][an diesem Mittwoch will die Bundesregierung im
       Kabinett den Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht beschließen.] Sie waren
       Mitglied im wissenschaftlichen Gutachtergremium für den Bericht. Wie fällt
       Ihre Bilanz aus? 
       
       Christoph Butterwegge: Ich habe den Entstehungsprozess des Berichts
       kritisch begleitet, ohne dass meine Ratschläge befolgt worden wären.
       Positiv ist auf jeden Fall, dass nun eine Untersuchung der Lebenslagen
       statt einer Betrachtung der Lebensphasen im Mittelpunkt steht. Hierdurch
       entgeht man der Gefahr einer Individualisierung des Problems und einer
       Verabsolutierung des Alterseffekts. Es wird deutlicher, dass die
       Mittelschicht unter Druck geraten und dafür die Ränder am oberen und
       unteren Ende der Verteilung gewachsen sind. Und es zeigt sich auch, wie
       verfestigt Armut und Reichtum sind.
       
       Was sehen Sie kritisch? 
       
       Ein zentrales Problem des weit über 500 Seiten starken Armuts- und
       Reichtumsberichts besteht darin, ein riesiges Datengrab zu sein. So viel
       statistisches Material in einem Dokument zu finden ist schön, man droht
       aber den Blick für die wesentlichen Punkte und die eigentlichen
       Problemlagen zu verlieren. Möglicherweise ist die dadurch erzeugte
       Unschärfe gewollt. Vor allem aber fehlt eine Analyse des strukturellen
       Zusammenhangs zwischen Armut und Reichtum.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       Bertolt Brecht hat schon in den 1930er Jahren die Begegnung eines armen und
       eines reichen Mannes beschrieben. Da sagt der eine zu dem anderen: „Wär ich
       nicht arm, wärst du nicht reich.“ Dieser Blick auf den Kausalzusammenhang
       zwischen niedrigen Löhnen und hohen Gewinnen fehlt im Bericht komplett.
       
       Das müssen Sie genauer erklären. 
       
       Wer wenig Geld hat, wie eine Kurzarbeiterin, geht zum Discounter, um Geld
       zu sparen, oder muss in den Dispo bei der Bank. Damit macht sie die
       Familien, denen Ketten wie Aldi oder Lidl gehören, noch reicher. [2][Diese
       sehr kleine Gruppe von extrem Vermögenden taucht im Bericht ebenso wenig
       auf] wie die Großaktionäre der Industriekonzerne und Finanzkonglomerate wie
       Blackrock. Die Bundesregierung hinkt weit hinter der Einsicht her, dass ein
       kapitalistisches Wirtschaftssystem auf sozialer Ungleichheit basiert, die
       sich durch eine neoliberale Politik weiter verschärft. Dazu haben die
       Demontage des Sozialstaates und eine Steuerpolitik, die Gutverdienende und
       Vermögende enorm entlastet, beigetragen.
       
       Allerdings wird Reichtum im neuen Bericht detaillierter analysiert? 
       
       Ja, und das ist eine Verbesserung gegenüber früheren Berichten. Erstmals
       hat das DIW Hochvermögende über eine repräsentative Zusatzstichprobe
       genauer unter die Lupe genommen. Und die Ergebnisse sind erschreckend,
       tauchen im Bericht allerdings nur abgeschwächt und verklausuliert auf.
       Später verschwinden die Reichen dann ganz von der Bildfläche des
       Regierungsberichts.
       
       Wie geht das denn? 
       
       Im Rahmen einer Längsschnittuntersuchung hat man die Bevölkerung acht
       sozialen Lagen zugeordnet. Die oberste wird aber nicht etwa Reichtum,
       sondern „Wohlhabenheit“ genannt. Was ist denn das bitte? Ausgerechnet im
       neuen Armuts- und Reichtumsbericht benennt man Reichtum auf einmal nicht
       mehr als solchen? Dazu passt, dass diese Kategorie viel zu breit ist und
       dadurch das Ausmaß der extremen Vermögensungleichheit in Deutschland
       verschleiert wird. Von Dieter Schwarz, dem als Eigentümer von Lidl und
       Kaufland mit 41,8 Milliarden Euro Privatvermögen reichsten Deutschen, bis
       hin zum Stadtbewohner mit Eigentumswohnung und zum Gutverdiener mit einem
       Nettoeinkommen von 3.900 Euro monatlich fallen alle in dieselbe Kategorie.
       
       In der Vergangenheit gab es immer wieder Kritik daran, dass die
       Bundesregierung die Berichte schönt. 
       
       Ja, die Bundesregierung missbraucht den Bericht stets als Vehikel, um die
       Erfolge ihrer Politik zu „verkaufen“. Armut und der Reichtum werden
       hingegen – wo immer möglich – relativiert. Die Einkommensungleichheit soll
       ausgerechnet seit 2005, als Hartz IV in Kraft trat und der
       Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer mit 42 Prozent auf den niedrigsten
       Stand seit 1949 sank, nicht mehr zugenommen haben. Geht es um den Anstieg
       der Armuts(risiko)quote, wird angefügt, dass dieser ja gar nicht so klar
       ersichtlich sei, und betont, dass alle von der guten wirtschaftlichen
       Entwicklung profitiert haben.
       
       Sie bestreiten das? 
       
       [3][Zieht man den Mikrozensus als größte und aussagekräftigste
       Sozialstatistik der Bundesrepublik heran], sieht man, dass die Armut und
       die Einkommensungleichheit gestiegen sind, auch und gerade in den
       vergangenen Jahren. [4][Von der guten Wirtschaftsentwicklung bis zur
       Covid-19-Pandemie haben nun wirklich nicht alle Menschen gleichermaßen
       profitiert.]
       
       Die Bundesregierung stellt sich im Bericht selbst ein gutes Zeugnis im
       Kampf gegen Armut aus. 
       
       Ja, der Bericht fungiert als politischer Persilschein. Unter der Rubrik
       „Zusammenfassung und Maßnahmen“ listet die Bundesregierung alles auf, was
       sie unternommen hat, und feiert das als Erfolg. Sogar die geringe,
       gesetzlich vorgeschriebene Anpassung der Hartz-IV-Regelbedarfe und das
       Baukindergeld, das sogar eher für mehr Ungleichheit gesorgt hat, müssen als
       Maßnahmen dagegen herhalten. Welch ein Irrwitz!
       
       12 May 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Bericht/Der-sechste-Bericht/sechster-bericht.html
   DIR [2] /Studie-zu-Verteilung-von-Vermoegen/!5695974
   DIR [3] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Haushalte-Familien/Methoden/mikrozensus.html
   DIR [4] /Ungleichheit-in-der-Coronakrise/!5752630
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alina Leimbach
       
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