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       # taz.de -- Journalistin Ingrid Kolb wird 80: MeToo im Jahr 1977
       
       > Sie deckte Sexismus am Arbeitsplatz auf, bevor es Hashtags gab: Die
       > renommierte Journalistin Ingrid Kolb wird 80. Eine Huldigung.
       
   IMG Bild: Versenkt sich gerne in Texte, ist aber immer offen für Gespräche: Ingrid Kolb
       
       Und dann ging man zu ihr ins Büro, hatte sie dort sitzen sehen im Schein
       einer eleganten Schreibtischlampe, versunken in irgendein Redigat – eine
       Kleintextübung vermutlich, von denen gab es viele –, hatte sacht
       angeklopft, war zögerlich eingetreten, wollte nicht stören, aber die Frage
       war dringend.
       
       Die, die da saß, war Ingrid Kolb, für uns an [1][der Henri-Nannen-Schule]
       die Schulleiterin; in jedem Moment eine, die weitergeben wollte, was ihr
       selbst so wichtig geworden war an ihrem Beruf als Journalistin.
       Recherchieren, beobachten, schreiben – klar; aber vor allem auch: Umgang
       mit Menschen, Empathie, Präsenz, Klarheit; Haltung, Humor, Leidenschaft.
       Hatte Ingrid Kolb den Stift beiseitegelegt und mit einer typischen
       Handbewegung – bedächtig, aber zielführend – das Haar bei leichtem
       Verschieben des Kopfes gerichtet, konnte das Gespräch beginnen.
       
       Der offene Blick, die Zugewandtheit, das zeichnete diese Begegnungen aus.
       Man wusste, sie würde zuhören, einen Rat geben. Er würde vielleicht knapp
       ausfallen, aber er würde sitzen – wie die Frisur.
       
       Ein Beispiel? Die für einen Schüler dieser Hamburger Journalistenschule
       weltbewegende Frage, ob man beim Spiegel oder beim Stern das
       Zeitschriftenpraktikum machen sollte, beantwortete sie mit dem Hinweis, man
       solle lieber zum Stern gehen, da werde auch mal gelacht, beim Spiegel eher
       nicht. Ingrid Kolb hat beide Magazine kennengelernt, sie glich blitzschnell
       ihre Erfahrung als Redakteurin dort mit der Persönlichkeit des vielleicht
       etwas desorientierten Schülers ab, der gerade vor ihr stand.
       
       ## Leben quasi verfilmt
       
       Man konnte sich auf die Güte solcher Tipps verlassen, vorgetragen mit
       sanfter Stimme und deutlich rollendem r, das sie aus ihrer bayerischen
       Heimat bewahrt hatte. Wenn man sich nicht daran hielt, merkte man bald: Oh,
       beim Spiegel wird ja wirklich nicht gelacht. Das Praktikum hat sich
       trotzdem gelohnt.
       
       Ingrid Kolb gab Orientierung und vermittelte, was sie sich angeeignet
       hatte. 1963 begann sie im Münchner Büro der Welt, war nach einem
       Volontariat dort über Stationen beim Münchner Merkur, bei der Zeitschrift
       Jasmin, bei Augsteins Spiegel in Hamburg 1977 zu Henri Nannens Stern
       gelangt und dort später Ressortleiterin geworden. Als erste Frau in einer
       von männlichen Männern dominierten Zeitschriftenwelt, wobei das Gebäude des
       Verlags Gruner + Jahr an der Außenalster nicht wegen des Gehabes der dort
       Tätigen „Affenfelsen“ genannt wurde, sondern wegen seiner Architektur.
       
       Ingrid Kolbs Leben als Journalistin ist quasi verfilmt worden, 2017
       strahlte das ZDF die Serie „Zarah – Wilde Jahre“ aus; Hauptfigur ist eine
       Journalistin, die sich in der Machowelt eines Hamburger Magazinverlags
       durchsetzt, für Gleichberechtigung kämpft und patriarchale, sexistische
       Strukturen offenlegt. Unverkennbar, dass Kolb erstes Vorbild für diese
       Serie war.
       
       Vierzig Jahre zuvor, 1977, war dort unter der Überschrift „Deutsche Chefs –
       Ferkel im Betrieb“ ihre erste Titelgeschichte erschienen, in der [2][sie
       sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz] schilderte, darin ein Satz von
       kolbscher Klarheit und Wucht wie dieser: „Wo Frauen arbeiten, werden sie
       angequatscht, betatscht und auch vernascht. Und das passiert so
       selbstverständlich, dass es – auch von den Frauen – fast als Naturgesetz
       und nicht als Willkür empfunden wird.“
       
       Acht Frauen hatte sie berichten lassen, und die Geschichte, so erzählte sie
       es, erzeugte einen Sturm. Entrüstung bei vielen Männern auch in der
       Stern-Redaktion, jemand schickte ihrem Ressortleiter, der zu ihr stand,
       einen abgehackten Schweinskopf, heftige Diskussionen, aber auch Zuspruch,
       Ermutigung; Untersuchungen wurden in Auftrag gegeben, Beschwerdestellen
       eingerichtet, etwas brach auf.
       
       ## MeToo im Jahr 1977
       
       Kolb steht für diese Art von Journalismus, der engagiert zu Werke geht, der
       ausgräbt und offenlegt, der Anstöße gibt. Sie kann davon erzählen und wurde
       immer wieder danach gefragt, wenn dieses wichtige Thema wieder Konjunktur
       hatte. Und klang stets auch ernüchtert, weil sexuelle Belästigung und die,
       wie sie es sagte, „systematische Abwertung von Frauen“, fortbestehen.
       
       Das zeigte sich etwa, als die Stern-Redakteurin Laura Himmelreich im Jahr
       2013 von einem sexistischen Übergriff des FDP-Politikers Rainer Brüderle
       berichtete, oder 2017, als unter dem Hashtag #MeToo weltweit Fälle von
       Sexismus im Alltag gesammelt wurden. Kolb allerdings blieb skeptisch:
       „Diese Kampagne wird genauso im Sand verlaufen wie alle Wellen vorher, wenn
       der Bogen wieder zu kurz gespannt wird [3][und nur auf Einzelfälle zielt].“
       
       Ingrid Kolb hat ihre beeindruckende Karriere nie zur Schau getragen, gerade
       das machte sie zu so einer tollen Leiterin der Nannen-Schule, die sie von
       1995 bis 2007 war. Eine Uneitle in einem mitunter sehr eitlen Gewerbe. Sie
       wollte ihr Handwerk weitergeben, unzählige Schreibübungen hat sie mit
       Anmerkungen versehen, hat erzählt, zugehört und sich unter die Schülerinnen
       und Schüler gemischt, wenn Ehemalige zu „Brot-und-Bier-Abenden“ kamen.
       Leicht konnte Kolb die Schule fortführen, die 1979 von dem respektierten,
       aber auch autoritären Wolf Schneider gegründet worden war; und schwer war
       es dann 2005, sie zu ersetzen.
       
       Auf einen brüchigen Weg bog Gruner + Jahr ein, als Christoph Fasel auf Kolb
       folgte, ein PR-Mann, dessen Nutzwertjournalismus sich so gar nicht mit der
       Tradition des Hauses vertrug. Schon nach einem Jahr wurde er abgesetzt und
       es übernahm erneut Ingrid Kolb, bis sie die Leitung der Schule 2007
       endgültig abgab.
       
       Das Team der Henri-Nannen-Schule hat ihr zum 80. Geburtstag am 12. Mai 2021
       eine Ton-Collage aus Glückwünschen unter ihren ehemaligen Schülerinnen und
       Schülern eingesammelt, dieser hier kommt gedruckt: Alles, alles Gute, liebe
       Frau Kolb.
       
       Felix Zimmermann leitet das taz-Wochenendressort. Er hat zwischen 1999 und
       2001 den 24. Lehrgang der Henri-Nannen-Schule absolviert.
       
       12 May 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Felix Zimmermann
       
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       Da kommt was auf den Springer-Verlag zu. Etwas, das die ganze Medienbranche
       betrifft. Mitarbeiter*innen lassen sich nicht mehr alles gefallen.