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       # taz.de -- Die Wahrheit: Enterhaken für Minister Scheuer
       
       > Verrostete leben länger: Zu Besuch auf dem der Humanität zutiefst
       > verpflichteten Berliner Gnadenhof für alte Autos.
       
   IMG Bild: Das Ende des Weges für jeden Wagen: der Schrottplatz
       
       Mit einem lauten „Rumms“ zerlegt es den Auspuff des VW Golf, und
       Metallteile wirbeln durch die Luft. Holger Lachmann nickt, man merkt
       gleich, der kugelige Mann mit den zarten Klavierspielerhänden kennt sich
       aus: „Das macht ‚Golfi‘ immer, wenn sich ihm Unbekannte nähern. Er hat
       schon so einiges erlebt“, tätschelt Lachmann behutsam den Kotflügel des
       Wagens, der immer noch grimmig grummelt.
       
       Schwaden von verbranntem Öl und frischem Männerschweiß wehen durch die
       große, weite Autowelt nahe dem Berliner Treptower Park. Auf einer
       Grünfläche, die mit blau-weißen Wimpeln abgesteckt ist, sind Dutzende Autos
       untergebracht neben einer grün-braunen Baracke, die als Werkstatt dient.
       Lachmann ist Umweltaktivist und setzt sich für Nachhaltigkeit ein. Er hat,
       wie er selbst sagt, ein Herz für Autos.
       
       In den Neunzigern arbeitete er auf einem Gnadenhof für brandenburgische
       Bären. Irgendwann habe es klick gemacht und er gemerkt, dass man Tiere wie
       menschliche Wesen behandle, Autos aber nicht. „Dabei sind sie noch treuere
       Begleiter als doofe Hunde, und das kann’s ja nicht sein, oder?“ Lachmann
       musste etwas unternehmen und ging nach Berlin.
       
       ## Lebensabend für Boliden
       
       Stolz führt uns der umtriebige Schrauber, der sich selbst als
       „Carficionado“ versteht, durch die Reihen seiner Boliden. Rost glänzt
       rötlich durch die Sonne. Übermütig berichtet der 51-Jährige von seiner
       ersten Rettungstat. Da sei dieser coloradorote Ford-Kastenwagen namens
       Molly gewesen, dessen vorherige Besitzerin immer derart gerast sei, dass
       die Batterie es nicht mehr lange gemacht hätte. Eines Tages hätte er Molly
       am Straßenrand gefunden, der Scheinwerfer baumelte nur noch an einem Kabel.
       Lachmann nahm sich der Kleinen an: „Mit dem neuen Batterieschrittmacher war
       sie nach ein paar Wochen wieder so richtig in Form.“ Er wringt einen
       Schwamm aus, striegelt Molly. „Wir wollen ihr und den anderen nur einen
       ruhigen Lebensabend ermöglichen.“
       
       Zusammen mit weiteren Umweltschützern hat er den Verein „Auch Beulen können
       ihn nicht entstellen“ (Abkine) ins Leben gerufen, dessen Mitglieder quer
       durch die Republik cruisen, um ausgesetzte und misshandelte Autos
       aufzustöbern und zu retten. Sie bieten Patenschaften für die oft
       altersschwachen Lieblinge an. So kümmert sich seit Kurzem ein junges Paar
       gleich vor Ort in Treptow um die rote Molly. „In Berlin-Mitte, da is
       Schickeria, Umweltzone und Bling-bling, Audi R8 und haste nich gesehn, aber
       hier draußen, hier is Freiheit.“
       
       „Römm, römm …“, jaulen Motoren zustimmend auf. Die Rostlauben wissen, was
       sie an Lachmann haben. Der Freund aller Blechkarossen hat sogar schon an
       den Petitionsausschuss des Bundestags geschrieben und einen eigenen
       Gesetzentwurf vorgelegt: das Autoschutzgesetz (AuSchG). Danach können
       Personen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft werden,
       die einem Auto aus Rohheit erhebliches Leid zufügen. Zwar gebe es noch
       keine Reaktion, schüttelt Lachmann den Kopf, aber aufgeben will er deshalb
       nicht.
       
       „Raff, raff …“, stottert es aus einem kleinen verbeulten Sportwagen.
       Lachmann legt seine zarte Hand emphatisch ans Wagendach. „Gerettet!“, sagt
       er mit leisem Glücksgefühl in der Stimme. Auf einem Filmset für die
       RTL-Serie „Alarm für Cobra 11“ fand er den Mazda3, der nach einem kurzen
       Auftritt als Autokomparse sein junges Leben explodierend aushauchte. Mit
       Mund-zu-Motorhaube-Beatmung hat Lachmann ihn zurück in die Spur gebracht.
       
       ## Wohlbehagen für Tausendsassa
       
       „Hallo, Holger“, meldet sich eine blecherne Computerstimme. Ein schwarzer
       Pontiac Firebird. Ist er es wirklich? Tatsächlich! „K.I.T.T.“, der
       Tausendsassa in Autogestalt aus der TV-Serie „Knight Rider“ mit David
       Hasselhoff. „Es war harte Arbeit, aber schließlich konnten wir die
       Molekularversiegelung, den Turbo Boost und den Enterhaken wieder
       aktivieren“, sagt Lachmann, als er auf den großen roten Knopf in K.I.T.T.s
       Cockpit drückt und ein Enterhaken herausschießt, der sich in die Karosserie
       eines vorbeifahrenden VW Polos bohrt. Vor lauter Wohlbehagen, endlich
       wieder einer vernünftigen Tätigkeit nachzugehen und nicht ausrangiert zu
       sein, schnurrt K.I.T.T. wie ein Löwe, der eine Gazelle verfrühstückt hat.
       
       K.I.T.T. und vor allem David Hasselhoff sind auch der Grund, warum
       Lachmanns Autoschutz-initiative es mittlerweile doch über Umwege in die
       Politik geschafft hat. Als Andi Verkehrsscheuer den Namen Hasselhoff hörte,
       war er sofort Feuer und Flamme, so der Kümmerer. Scheuer sei interessiert
       an dem Enterhaken für seinen Dienstwagen, mit dem dann Mautsünder dingfest
       gemacht werden könnten.
       
       Geblendet von der untergehenden Sonne vernehmen wir deutlich ein heftiges
       Kichern, das nur von den umstehenden Rostlauben kommen kann. Holger
       Lachmann ficht das nicht an. Zum Abschied möchte er uns seine
       ölverschmierte Hand geben. Nein, danke.
       
       11 May 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Denis Gießler
       
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