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       # taz.de -- Armutsbericht der Bundesregierung: Kritik an neuer Messung
       
       > Der neue Armutsbericht misst Wohlstand in der Bevölkerung erstmals
       > mehrdimensional. Doch „Armut“ wird dadurch nur noch sehr eng gefasst.
       
   IMG Bild: Satt und trotzdem arm?
       
       Berlin taz | Die Ergebnisse im aktuellen Entwurf des Armuts- und
       Reichtumsberichts der Bundesregierung sind alarmierend: Sowohl die unterste
       soziale Lage „Armut“ als auch die oberste Lage „Wohlhabenheit“ sind seit
       1984 von Anteilswerten von jeweils 4 Prozent auf 11 beziehungsweise 9,1
       Prozent gestiegen, so die Autor*innen. Deutschland drifte an den Polen
       auseinander.
       
       Doch an dem Bericht gibt es Kritik. Der Paritätische Wohlfahrtsverband
       bemängelt eine „größtenteils willkürliche“ Einteilung der Kategorien im
       Teil zu den Lebenslagen. So werde die Kategorie der „Armut“ zu eng
       verstanden. Und das mache sich auch in den Ergebnissen bemerkbar,
       kritisiert der Paritätische. Die Forscher*innen im Armutsbericht kommen
       auf 11 Prozent „Armut“ in dem Zeitraum von 2013 bis 2017. Die übliche
       Messung über die Armutsquote ergebe dagegen für denselben Zeitraum
       durchschnittlich 15,6 Prozent.
       
       Beschönigt der Armutsbericht also [1][die soziale Lage in Deutschland]? Es
       ist etwas komplizierter: Der neue Bericht führt erstmals die sogenannten
       Lebenslagen-Untersuchung ein. Die Forscher*innen messen Armut nicht mehr
       alleine über das Einkommen. Stattdessen werden Vermögen, Wohnungsgröße und
       Erwerbsstatus berücksichtigt. Diese Faktoren können Einkommensarmut- oder
       -reichtum abmildern – oder noch verstärken. Gerade dieser Vielschichtige
       Zugang zu Armut wurde lange von Verbänden gefordert. Zudem zeichnet die
       Untersuchung (eventuelle) Auf- und Abstiege der Personen über Jahre nach.
       
       Ausgehend von den Daten arbeiteten die Forscher*innen acht „Lebenslagen“
       heraus – darunter die Lage „Armut“ am unteren und „Wohlhabenheit“ am oberen
       Ende. Neben Armut führt die Untersuchung zudem noch die Kategorie
       „Prekarität“ für die unteren Lagen sowie die Zwischenkategorie „Armut
       Mitte“ auf.
       
       ## Schulden nicht komplett erfasst
       
       Diese Einteilung erfordert jedoch gewisse Wertungen, beispielsweise wie
       einzelne Indikatoren gewichtet oder die Lagen eingeteilt werden. Der
       Paritätische kritisiert: „Wird in diesem Kontext ein alternatives
       statistisches Verfahren zur Konstruktion der Lagen und der Berechnung ihrer
       Anteilswerte eingesetzt“, fielen die Werte in den unteren Lagen wie „Armut“
       deutlich höher aus.
       
       Der Paritätische hält daher „einer stärkere Kontextualisierung der
       Ergebnisse der Bremer Forschungsgruppe für nötig“, schreibt er in seiner
       Stellungnahme. Das sei vor dem Hintergrund, wichtig, da der Bericht „von
       einem breiten Leser*innenkreis rezipiert“ werde und die „darin
       berichteten Ergebnisse eine prominente Stellung im medialen und politischen
       Diskurs einnehmen.“
       
       Und was sagen die Autor:innen des Reichtumsberichts zu dieser Kritik?
       Zwar räumt Studienmitautor Olaf Groh-Samberg von der Universität Bremen
       ein, dass die Kategorie Armut tatsächlich verhältnismäßig eng gefasst sei.
       „Aber wir wollten auch, dass die Abgrenzung zu anderen Lagen genauer wird.“
       
       ## Rund 70 Prozent der Armen bleiben Arm
       
       Das Ergebnis: „Jetzt haben wir ein sehr klares und definiertes Bild von
       Menschen am ganz unteren Ende der Verteilungsskala, das eindrücklich zeigt,
       wie sehr ein nicht zu vernachlässigender Teil in Deutschland dauerhaft
       erheblich arm ist“, sagt Groh-Samberg. Dazu sei „Armut“ nicht die alleinige
       Kategorie für die unteren Lagen.
       
       „Aber unabhängig davon, ob wir jetzt die Kategorien etwas weiter gefasst
       hätten, oder nicht. Was bleibt ist die Feststellung, dass die Gruppe der
       Armen in den letzten Jahren gewachsen ist und sich verfestigt. Das ist auch
       die zentrale Botschaft des Berichts“, sagte Groh-Samberg der „taz“.
       
       Konkret heißt das: Aus der „Armut“ heraus gelingt es im
       Untersuchungszeitraum nur in geringem Umfang in die „Untere Mitte“ oder gar
       in Lagen darüber hinaus aufzusteigen, so die Studie. Rund 70 Prozent der
       Armen bleiben arm. Ähnlich wenig Mobilität gibt es auch am oberen Ende der
       Verteilung, wo ebenfalls zwei Drittel ihre Position beibehielten.
       
       Bei einem weiteren Punkt teilt der Forscher die Ansicht des Paritätischen.
       Das genaue Ausmaß der Armut sei in der Untersuchung wohl untererfasst. Denn
       für die Untersuchung wurden Personen zwar zu ihrem Vermögen befragt, nicht
       aber durchgängig zu Schulden. Außerdem sind ganze Gruppen potenziell Armer
       – etwa [2][Wohnungslose] – nicht oder erheblich zu wenig berücksichtigt.
       
       16 Apr 2021
       
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