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       # taz.de -- Kostenlose Ausweise für Obdachlose: Raus aus dem Abseits
       
       > Im Hamburger Bezirk Mitte bekommen Obdachlose ihren Personalausweis ab
       > dem 1. Mai kostenlos. Das erleichtert Jobsuche und Behördenkontakte.
       
   IMG Bild: Obdachlosigkeit in Hamburg: Jürgen Pfeuffer vom Mitternachtsbus bringt ein Lunchpaket
       
       Hamburg taz | Ausweisdokumente kosten Geld. Ist halt so, sagen sich die
       meisten und denken nicht weiter drüber nach. Man geht zum Amt, zahlt,
       fertig.
       
       Jan Korte, Bundestagsmitglied von Die Linke, findet aber, Ausweise seien
       „keine Extra-Leistung der Behörden, sondern eine notwendige allgemeine
       Dienstleistung für alle Bürgerinnen und Bürger, die der Ausweispflicht
       unterliegen“. Das Dokument solle „einmal innerhalb der jeweiligen
       Gültigkeitsdauer kostenlos ausgestellt werden“.
       
       Ob das jemals bundesweit so kommt, steht in den Sternen. Aber es gibt
       Beispiele, die zeigen, dass es geht: Ab dem 1. Mai stellt das Bezirksamt
       Hamburg-Mitte Menschen ohne festen Wohnsitz gebührenfreie Personalausweise
       aus, erst mal für ein Jahr. Bisher mussten oft Hilfsorganisationen die
       Kosten aus Spendengeldern decken.
       
       Der Antrag kam von der SPD-, CDU- und FDP-Koalition. Die Grünen, Die Linke
       und die AfD stimmten zu. „Freiheit ist kein leeres Versprechen, das nur für
       Reiche gilt“, sagt Timo Fischer, Vorsitzender der FDP-Bezirksfraktion in
       Mitte. „Wir wollen allen Menschen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen.“
       
       Hamburg-Mitte nimmt unter den Bezirksämtern eine Sonderrolle ein. Es ist
       zuständig für alle alleinstehenden wohnungslosen Menschen, die zuvor nicht
       in der Stadt gemeldet waren. Zudem leben von den – einer Studie von 2018
       zufolge – mindestens 1.900 obdachlosen Menschen in Hamburg die meisten in
       Mitte; rund 600 von ihnen beantragen jährlich einen Personalausweis. Dazu
       kommen Menschen, die nach länger Abwesenheit zurückkehren und nicht
       registriert sind. Für sie alle sieht das Bezirksamt „Handlungsbedarf“.
       
       ## Einstimmigkeit bei der Abstimmung für das Projekt
       
       Angesichts dessen wertet Fischer die Einstimmigkeit des Beschlusses für das
       Projekt als wichtiges Zeichen. Bei dem „dicken Brett, dass da zu bohren
       ist“, brauche es „einen breiten Konsens, nicht nur politisch“. Und eine
       bloße Bekämpfung der Obdachlosigkeit reiche nicht. „Wir müssen sie
       beenden!“ Der kostenlose Personalausweis sei da nur ein Baustein. „Immerhin
       gibt er den Betroffenen ein wenig Würde zurück.“
       
       Und es geht nicht nur um Würde, sondern auch um Sozialleistungen. Eine
       Inanspruchnahme sei „ohne Personalausweis oder ein anderes Ausweisdokument
       faktisch nicht möglich“, sagt Malte Habscheidt, Sprecher der Diakonie
       Hamburg. Ohne Sozialleistungen wiederum bekämen obdachlose Menschen „kein
       Bein auf den Boden, an eine Wohnung oder gar Arbeit ist ohne Ausweis nicht
       zu denken“, so Habscheidt weiter. Die Diakonie begrüßt das Pilotprojekt
       deshalb als einen „wichtigen Schritt, Hürden für obdachlose Menschen
       abzubauen und eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen“.
       
       Arm machen die so anfallenden Kosten das Bezirksamt wohl nicht: Rund 33.000
       Euro werden pro Jahr anfallen. „Der erforderliche Mittelansatz ist
       verschwindend gering“, sagt Fischer. Er hofft, „dass von diesem Projekt
       eine Signalwirkung ausgeht“. Für die vielen Probleme, vor denen obdachlose
       Menschen stünden, müsse man pragmatische und schnelle Lösungen finden –
       nicht nur in Hamburg-Mitte. Zudem dürfe man Entscheidungen „nicht über die
       Köpfe der Betroffenen hinweg“ treffen. Deshalb tausche man sich mit
       Vereinen wie „Leben im Abseits“ aus.
       
       „Leben im Abseits“, gegründet, um „über das unakzeptable und
       menschenunwürdige Leben auf der Straße aufzuklären“, bestätigt, dass der
       interfraktionelle Vorstoß in die richtige Richtung zielt.
       
       Im März 2022 soll dann eine Auswertung des Pilotprojekts vorliegen, zudem
       eine Empfehlung des Bezirksamts, wie es weitergeht. Vielleicht setzen sich
       dann auch die übrigen sechs Bezirke ins Boot.
       
       27 Apr 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Harff-Peter Schönherr
       
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