URI: 
       # taz.de -- Studie zu Missständen in Kinderkuren: Verdrängte Ferien
       
       > Die Evangelische Hochschule startet eine Befragung ehemaliger
       > Verschickungskinder. Es geht um Gewalterfahrungen in Hamburger
       > Einrichtungen.
       
   IMG Bild: Peter Krausse als Kind 1958 im Kinderkurheim auf Föhr, aufgenommen für die Eltern daheim
       
       Hamburg taz | Als Peter Krausse von der Kur auf Föhr wieder nach Hause
       fuhr, saß er mit drei Jungs im Abteil mit zugezogenem Vorhang: Zur Strafe
       dafür, dass er angeblich ungezogen war. Er fand sein Heim schrecklich,
       hatte zusehen müssen, wie Kinder ihr Erbrochenes essen mussten, musste
       still und stramm liegen beim „Mittagsschlaf“. Und als er eine Karte an die
       Eltern schickte, weigerte er sich, den vorgegebenen Text dafür von einer
       Tafel abzuschreiben.
       
       So wie Peter erging es vielen Kindern in der Nachkriegszeit. Man
       „verschickte“ sie in die Berge oder an die See. Das sollte zu ihrem Besten
       sein, doch viele erlebten es als Horror. Als sich die heute erwachsenen
       Verschickungskinder 2019 auf Sylt zum Kongress trafen, war ihre erste
       Forderung: Es muss Forschung geben. Nun startet in Hamburg die
       Evangelischen Hochschule die erste Studie. Seit Montag steht [1][ein
       Fragebogen online], den alle ausfüllen können, die von 1945 bis 1980 zur
       Kinderkur beim Verein „Kinder- und Jugendgenesungsfürsorge“ oder der
       „Rudolf-Ballin-Stiftung“ waren.
       
       Dazu zählen das „Hamburger Kinderheim“ in Wyk auf Föhr, das Heim „Linden
       Au“ in Lüneburg, der „Hubertushof“ im Allgäu und zehn weitere. Gefragt wird
       zum Beispiel nach der Situation beim Essen, beim Schlafen, in der Freizeit,
       ob Kinder schreiben durften und wie sie die Erfahrung heute bewerten.
       
       „Durch den Fragebogen verschaffen wir einen ersten Überblick“, sagt
       Johannes Richter, Professor für Soziale Arbeit, der mit Kollegin Sarah
       Meyer die Studie leitet. Montags früh bieten sie eine Sprechstunde für
       Betroffene an. Bei der ersten meldete sich eine Dame, die erstmals über
       ihre Erfahrungen sprach.
       
       ## Zur Strafe eine kalte Dusche
       
       Die Forscher wollen auch Mitarbeiter interviewen. Zudem recherchiert
       Richter in Archiven über den Umgang der Verwaltung mit Beschwerden. Bekannt
       ist, dass sich 1971 ein Erzieher beklagte, weil in Linden Au Kinder zur
       Strafe kalt geduscht und in den Keller gesperrt wurden. Mit diesem Erbe
       setzte sich inzwischen auch die Rudolf-Ballin-Stiftung auseinander. So
       heißt es auf der Homepage, man wisse, dass es 1971 in Linden Au zu
       „massiven Misshandlungen“ kam.
       
       Die Äußerungen ehemaliger Verschickungskinder wiesen aber darauf hin, dass
       das kein Einzelfall war, weshalb man nun mit der Stadt diese Studie
       beauftrage. Die wird mit 32.000 Euro gefördert, soll im Sommer 2023 fertig
       sein. Doch schon im August ist ein Zwischenbericht geplant. In der zweiten
       Phase führen dann Master-Studierende mit 30 Menschen vertiefte Interviews.
       
       Das Projekt schien zunächst etwas heikel. Denn die Betroffenen, die sich
       auf Initiative von [2][Schriftstellerin Anja Röhl] [3][bundesweit
       vernetzen], wollen in Form von „Citizen Science“ selbst forschen. Sie haben
       Wissenschaftler in ihren Reihen. So gibt es bereits auf Bundesebene eine
       [4][allgemeinere Befragung], die die Sozialwissenschaftlerin Christiane
       Dienel betreut.
       
       Laut einer Auswertung, die Anja Röhl in ihren Buch „Das Elend der
       Verschickungskinder“ publiziert, bewerteten von über 3.000 Betroffenen 94
       Prozent die Kur „negativ“. Und an Bestrafungen, wie Peter Krausse sie
       schildert, erinnern sich zwei Drittel. Neun von zehn berichten von
       körperlichen und seelischen Folgen, für die meisten waren die von Dauer.
       
       „Wir hatten am Anfang starke Bedenken gegen die Studie“, sagt Peter
       Krausse, der in Hamburg die Gruppe der Verschickungskinder koordiniert.
       Doch nach Gesprächen mit Behörde, Stiftung und Forschern seien diese
       ausräumt. So gibt es einen Beirat, in dem Betroffene den Vorsitz haben.
       Dort wurde der Fragebogen abgestimmt.
       
       ## Verschickungskinder gründeten Verein
       
       „So eine Landesforschung vor Ort ist sinnvoll“, sagt auch Christiane
       Dienel. Doch zugleich sei es wichtig, bundesweit zu forschen, welche
       Rahmenbedingungen diese Praxis zuließen. Auch müssten die Betroffenen im
       ganzen Land darin unterstützt werden, als Bürgerforscher über die Heime zu
       recherchieren, damit sie Macht über ihre eigene Vergangenheit kriegen.
       
       Dies wird bisher vom Verein der Verschickungskinder ehrenamtlich gemacht.
       Weil das auf Dauer aber nicht zu schaffen ist, sei eine finanzielle
       Unterstützung auf Bundesebene nötig, fordern Dienel und Röhl. Dies sahen
       auch [5][die Familienminister im Mai 2020] so und forderten eine Forschung,
       die die „Eigenrecherchen der Betroffenen“ berücksichtigt. Doch das
       zuständige Gesundheitsministerium hat Dienel und Röhl auf die Zeit nach
       Corona vertröstet. „Aber die Zeit drängt, denn wir Betroffen werden älter“,
       sagt Krausse.
       
       Er ist 70, sein Heim gehörte einer Krankenkasse, deshalb ist es bei den nun
       Beforschten nicht dabei. Deshalb hofft er auf weitere Studien. Um
       Entschädigung gehe es ihm nicht. Aber einzelne, die unter posttraumatischen
       Störungen leiden, bräuchten gezielte Hilfe.
       
       Johannes Richter geht es auch um die Verantwortung der Institutionen. Oft
       höre er, es gab damals eben einen anderen Zeitgeist. Als Entlastung reiche
       das nicht. „Schließlich traten sie mit den Anspruch an, sie können die
       Kinder besser erziehen und pflegen.“
       
       15 May 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.ev-hochschule-hh.de/fileadmin/user_upload/downloads/Forschung_und_Fortbildung/Online-Fragebogen_Formular_bearbeitbar_09.05.2021.pdf
   DIR [2] /Autorin-ueber-ihre-Traumatisierung/!5653468
   DIR [3] https://verschickungsheime.de/
   DIR [4] https://verschickungsheime.de/fragebogen/
   DIR [5] https://jfmk.de/wp-content/uploads/2020/06/JFMK-2020-%C3%96ffentliche-Ergebnisniederschrift-1.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kaija Kutter
       
       ## TAGS
       
   DIR Kinder
   DIR Gesundheit
   DIR Zeitgeschichte
   DIR Gewalt gegen Kinder
   DIR Gewalt gegen Kinder
   DIR Gewalt gegen Kinder
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Kinder
   DIR Kinderheim
   DIR Erziehung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Autorin über Verschickungskinder: ,,Die Kinder erlebten dort Gewalt“
       
       In den 50er bis 90er Jahren wurden Kinder zu oft traumatisierenden
       Kuraufenthalten geschickt. Manche hätten das nie verwunden, sagt Anja Röhl.
       
   DIR Misshandlung eines Verschickungskindes: Zu zart gebaut, sagte der Arzt
       
       Auf Kur wurde unser Autor als Kind misshandelt. Die Gewalt der
       Heimerziehung beruhte auch darauf, dass er nicht dem Männlichkeitsideal
       entsprach.
       
   DIR Kuraufenthalte von Kindern: Wir Verschickungskinder
       
       Millionen Mädchen und Jungen mussten bis Ende der 1990er allein auf Kur
       fahren. In den Heimen haben sie teils traumatische Erfahrungen gemacht.
       
   DIR Verschickungskinder in Westdeutschland: Ohrfeigen, bis alle still sind
       
       Bis in die 1980er Jahre wurden Kinder über Wochen auf Kur geschickt und
       dort misshandelt – für viele eine traumatische Erfahrung. Eine Erinnerung.
       
   DIR Autorin über ihre Traumatisierung: „Erinnerungen überfluteten mich“
       
       Anja Röhl wurde als Kind „von der Kasse verschickt“, wie es in den 1960ern
       hieß. Nun streitet sie mit anderen Betroffenen für eine Aufarbeitung.
       
   DIR Abgebrochene Mutter-Kind-Kur: Holt mich hier raus!
       
       Mutter-Kind-Kuren versprechen Erholung. Aber manchmal sind die anderen
       Mütter dort die Hölle. Ein Erfahrungsbericht zum Muttertag.