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       # taz.de -- Geschäft mit der Qual
       
       > In Bad Iburg wird derzeit in über 100 Verfahren ein weitverzweigtes
       > Tierschutzverbrechen durchleuchtet: Der örtliche Schlachthof Temme
       > schlachtete illegal kranke Rinder. Landwirte bekamen so Geld für Tiere,
       > die sie eigentlich hätten nottöten müssen
       
       Von Harff-Peter Schönherr
       
       Beschaulich wirkt er, der kleine niedersächsische Kurort Bad Iburg.
       Uhrenmuseum, Teichanlagen und mittendrin, auf einer Anhöhe, eine
       tausendjährige Burg, als Postkartenmotiv. Aber die Idylle trügt. Denn hier
       oben auf der Burg, im Amtsgericht, geht es seit vielen Monaten um das, was
       Friedrich Mülln, Kopf der Tierrechtsorganisation Soko Tierschutz, eine
       „Hölle“ nennt. Geschaffen durch die „Bad Iburg-Connection“.
       
       In Dutzenden Verfahren werden dort die gewaltvollen Geschäftspraktiken im
       Schlachthof der Vieh- und Fleisch Karl Temme GmbH & Co. KG durchleuchtet,
       möglich gemacht durch abgestumpfte Landwirte, Viehtransporteure und
       pflichtvergessene Veterinäre.
       
       Bis die Tierschützer den Bad Iburger Schlachtbetrieb 2018 durch verdeckt
       gefilmtes Videomaterial zu Fall brachten, sei er in der Branche bundesweit
       bekannt dafür gewesen, illegal „Tiere anzunehmen, die kein anderer will“,
       sagt Mülln. Kranke, abgemagerte, schwerverletzte Tiere. Tiere, die auf dem
       Hof notgetötet hätten werden müssen, in Tierkörperbeseitigungen entsorgt.
       Stattdessen landen sie hier, werden mit Seilwinden in den Schlachthof
       gezogen, getötet und verarbeitet.
       
       Nach außen hin war der Schlachthof Temme ein honoriger Traditionsbetrieb.
       Mit rund 7.000 geschlachteten Rindern pro Jahr nicht allzu groß, aber auch
       nicht gerade klein. Auch Biofleisch wurde hier produziert. Aber was im
       Inneren vor sich ging, war eine andere Welt. Am Ende kam die Stilllegung.
       Und die Polizeidurchsuchung. Und die Entlassung der zuständigen
       Veterinärmediziner durch die Kreisverwaltung.
       
       „42 Verfahren sind schon abgewickelt“, sagt Susanne Kirchhoff, Direktorin
       des Amtsgerichts Bad Iburg. „Und einen Freispruch gab es bisher nicht.“
       Neun Verfahren sind derzeit noch anhängig. Bis am Ende auch die
       Hauptverantwortlichen abgeurteilt sind, werden es weit über 100 sein. „Ein
       solch großer Komplex ist für uns schon sehr ungewöhnlich“, sagt Kirchhoff.
       Wann die nächsten Verfahren starten, weiß sie noch nicht. Klar ist nur: Es
       wird schwieriger. „Wir haben mit den rechtlich einfach gelagerten Fällen
       angefangen“, sagt Kirchhoff. „Jetzt kommen die komplexeren Tatgeschehen.“
       
       Dass es bisher keinen Freispruch gab, stellt Mülln nicht zufrieden. „Es ist
       lobenswert, dass der Fall Bad Iburg um das kriminelle Netzwerk auf Kosten
       von zahllosen schwer kranken, gequälten Kühen vor Gericht aufgearbeitet
       wird, die lachhaften Strafen werden das System aber kaum erschüttern
       können“, sagt er. Der Staatsanwaltschaft fehle „der Mut und das Interesse,
       die Taten ernsthaft zu bestrafen“. Die „Connection“ sei das schlimmste
       organisierte Tierschutzverbrechen der letzten Jahrzehnte. Müllns Fazit:
       „Wenn niemand Berufsverbote und Haftstrafen fürchten muss, müssen wir
       feststellen, dass die Kadavertaxis schon wieder rollen und sich alles nur
       verlagert hat.“
       
       Auch Jan Peifer sieht das so, Vorstandsvorsitzender des Deutschen
       Tierschutzbüros: „Die meisten Fälle von Tierquälerei werden noch nicht
       einmal vor Gericht verhandelt“, sagt er. Und wenn sich Tierquäler doch
       verantworten müssten, könnten die Geldstrafen aus der Portokasse gezahlt
       werden. „Das ist nicht abschreckend, sondern fördert letztlich
       Tierquälerei.“
       
       Bis zu drei Jahre Haft sieht das Tierschutzgesetz vor, bis zu 360
       Tagessätze Geldstrafe. Die bisher schwerwiegendste Strafe der
       Temme-Verfahren waren 100 Tagessätze, gegen Viehtransportfahrer Sascha P.
       Die Videos der Tierschützer zeigen Rinder, die aus seinem Anhänger hinken
       und zusammenbrechen. Drei, die nicht mehr stehen können, werden bei vollem
       Bewusstsein per Kette über die Sprossen der Lkw-Rampe gezogen. Sascha P.
       arbeitet bei allem mit, geübt, wie selbstverständlich. 100 Tagessätze zu je
       50 Euro Strafe klingt dafür nicht viel, zumal das Gericht geurteilt hat,
       dass Sascha P. „mehrere Tiere misshandelt hat, dabei mit roher Gewalt
       vorgegangen ist und die Tiere erheblich gequält hat“. Aber die wesentliche
       Zahl ist die 100. Denn alles über 90 heißt: Vorstrafe.
       
       „Da gibt es natürlich unterschiedliche Wahrnehmungs- und
       Erwartungshaltungen“, sagt Kirchhoff. „Aber das ist immer eine
       Abwägungsfrage: Wie schwer wiegt die Tat, wie groß ist die persönliche
       Schuld? Liegt eine Wiederholungstat vor, Einsicht, eine Vorstrafe?“ Die
       Hauptverantwortlichen stehen noch aus. Die Bilanz ist also noch offen.
       
       Ob die Temme-Verfahren zeigen, dass hier systemische Fehler zutage treten,
       nicht nur Einzelfälle? „Das ist so ähnlich wie bei Junkies, hat einer
       meiner Richterkollegen ganz treffend gesagt“, sagt Kirchhoff. „Die wissen
       auch alle, wo man die Drogen herkriegt, aber vorher absprechen muss sich
       keiner.“
       
       Fälle wie Temme haben die deutsche Fleischwirtschaft in Verruf gebracht.
       Aber Grundsätzliches verbessert hat sich nicht. Die Videoüberwachung der
       niedersächsischen Schlachthöfe, Anfang 2019 vereinbart, angeschoben durch
       Agrarministerin Barbara Otte-Kinast (CDU), hatte zunächst ein großes
       Datenschutzproblem. Viele der installierten Kameras haben die Schlachthöfe
       daraufhin wieder abgehängt.
       
       Mülln sieht sie als Ablenkungsmanöver, als „Scheindebatte, welche die
       Branche gerne mitführt, um von echten Eingriffsmöglichkeiten abzulenken und
       Zeit zu schinden“. Dort, wo es schon ausprobiert worden sei mit den
       freiwilligen Kameras durch die Unternehmen, hätten Schlachthöfe „trotzdem
       wegen Grausamkeiten geschlossen werden“ müssen – nachdem Tierschützer
       selbst gefilmt hatten. Im nordrhein-westfälischen Eschweiler etwa, oder in
       Tauberbischofsheim in Baden Württemberg.
       
       Die Frage ist immer, wer soll die stundenlangen Videoaufnahmen auswerten?
       Schlachthofmitarbeiter? Veterinäre? Letztere seien „schon überfordert, wenn
       sie direkt neben der Tat stehen“, sagt Mülln mit Blick auf den Schlachthof
       in Bad Iburg. Außerdem: „Die Kameras sind in der Hand der Schlachthöfe, und
       wenn die Polizei kommt, waren sie im entscheidenden Moment aus.“
       
       Ohnehin hat Mülln den Verdacht, bei Otte-Kinasts Videovorstoß sei es gar
       nicht um den Tierschutz gegangen: „Die meisten Kameras sind mit
       Nachtsichtscheinwerfern ausgerüstet worden, und so sieht man den wahren
       Zweck, denn die sollen Tierschützer und nicht Tierquäler entdecken.“
       
       „Mir reicht es!“, hatte Otte-Kinast Mitte November 2018 in einer Aktuellen
       Stunde des niedersächsischen Landtags gesagt. „Ich benötige jetzt keine
       weiteren Beweise mehr dafür, dass wir in Sachen Tierschutz einen Neustart
       in unseren Schlachthöfen benötigen.“
       
       Seither ist alles wie immer.
       
       15 May 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Harff-Peter Schönherr
       
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