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       # taz.de -- Veränderungen durch die Pandemie: Was bleibt nach Corona?
       
       > Covid-19 hat unser Leben verändert. Ein Blick auf acht Bereiche, in denen
       > das Neue die Pandemie überdauern könnte.
       
   IMG Bild: Neues Publikum: Dänische Studierende spielen im April 2021 Cello für Kühe
       
       Corona tritt – zumindest in unseren Breiten – in eine neue Phase ein. Mehr
       und mehr Menschen werden geimpft, erste Versuche sind zu beobachten, das
       alte Leben aus der Zeit vor der Pandemie wieder zurückzugewinnen: Cafés
       öffnen ihre Terrassen, die Frage, was Geimpfte und Genesene künftig
       gegenüber Nichtgeimpften tun dürfen, ist konkret geworden. Zeit also, eine
       Bilanz zu ziehen: Wir arbeiten anders, wir gehen anders miteinander um,
       wir bewegen uns anders, wir erleben, wie sich Altgewohntes neu denken
       lässt. Was davon könnte bleiben?
       
       ## Die Wissenschaft
       
       Was wäre man ohne sie gewesen – ohne Christian Drosten, Viola Priesemann,
       Isabella Eckerle, Michael Meyer-Hermann und Karl Lau… aber nein, der ist ja
       Politiker. Es waren aber die Wissenschaftler:innen, die der Öffentlichkeit
       in der Pandemie geholfen haben zu verstehen, was gerade passiert. Die Rede
       und Antwort standen, erklärten, oft auch Konsequenzen benannten. Nie zuvor
       hat die Wissenschaft eine so zentrale Rolle für die Bevölkerung gespielt,
       ist die Bedeutung der Forschung so sichtbar geworden. Nicht selten ist nun
       zu hören, dass die Akzeptanz gegenüber der Wissenschaft an Corona genesen
       ist.
       
       Aber man darf sich nichts vormachen. Das Virus hat nicht nur geeint, es hat
       auch massive Verständigungsprobleme und falsche Rollenvorstellungen im
       Verhältnis Öffentlichkeit und Forschung offengelegt, an denen in Zukunft zu
       knabbern sein wird. Die Wissenschaft hat zu lange versäumt, ein halbwegs
       realistisches und selbstkritisches Bild von sich zu vermitteln und damit
       die Gesellschaft zu wappnen für das Labyrinth der pandemischen
       Erkenntnissuche.
       
       Das rächt sich jetzt. Vor allem zwei Dinge blieben von Teilen der
       Öffentlichkeit unverstanden. Da ist zuerst die Vorläufigkeit
       wissenschaftlicher Erkenntnisse, die oft zu Widersprüchen führt und
       keinesfalls dazu taugt, endgültige Schlüsse zu ziehen. Ein Beispiel ist die
       Debatte um Kinder als „Pandemietreiber“. Aus einem Wirrwar ungeprüfter,
       vorpublizierter Studien, Preprints genannt, pickten sich
       Schulöffnungsbefürworter:innen genauso Belege für ihre Position heraus wie
       die Gegner:innen von Schulöffnungen.
       
       Die Folge waren verhärtete Fronten, aber kein Erkenntnisgewinn. All jene
       offenen Fragen, die normalerweise im wissenschaftlichen Prozess diskutiert
       werden und damit eine Sortierfunktion im Wust der Studien ausüben, fielen
       in dieser öffentlich geführten Diskussion einfach weg. Kein Wunder, es
       fehlte ja jede Erfahrung mit solchen Vorläufigkeiten.
       
       Ein zweiter Umstand wiegt womöglich noch schwerer: der, dass
       Wissenschaftler:innen Menschen sind. Nicht jeder Mensch ist selbstlos
       und klug. Auch manch Professor:in ist eitel, obgleich mäßig kompetent –
       und drängt ins Fernsehen, wenn sich die Chance bietet. So entstehen
       Expert:innen, die keine sind, und die qua Titel dennoch in Position
       gebracht werden, wenn Forscher:innen mit Kenntnis und Erfahrung
       unangenehme Tatsachen aussprechen. So werden Expertenkriege stilisiert, die
       keine sind.
       
       Die wissenschaftlichen Organisationen werden sich nach der Pandemie nicht
       darauf ausruhen können, einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung des Virus
       geleistet zu haben. Selbst wenn Letzteres fraglos Tatsache ist.
       
       Kathrin Zinkant 
       
       ## Das Miteinander
       
       Wenn es in Beziehungen Konflikte gibt, dann dreht es sich meist um Fragen
       der Macht oder um solche von Nähe und Distanz. Häufig sind zu viel Nähe
       und zu wenig Distanz das Problem. Und dieses Problem ist uns in der
       Coronazeit abhanden gekommen, so wir nicht „einem Haushalt“ entstammen und
       einander ständig auf der Pelle hocken: Anstatt einander die Hände zu
       reichen, touchieren wir uns mit harten Knochen. Den Knöcheln oder den
       Ellbogen.
       
       Distanzierter, steifer geht’s nicht, außer man ist Hamburger Pfeffersack
       oder ostfriesischer Leuchtturmwärter. Und das ist wirklich ein Drama,
       hatten wir uns doch hierzulande gerade erst erfolgreich mediterranisiert.
       Legendär die Usus gewordenen ellenlangen Begrüßungs- und vor allem die
       Abschiedsrituale in Freundes- und sogar Kolleg:innenkreisen. Ein einziges,
       endloses Gedrücke, sich in den Arm nehmen und sanft an der Schulter
       berühren in engen Hausfluren und auf den Bürgersteigen vor gastronomischen
       Einrichtungen, im Winter auch unter dem Heizpilz.
       
       Nun reicht es also nicht einmal mehr für einen
       ostdeutsch-protestantisch-proletarischen Händedruck. Ganz zu schweigen von
       Münchner Gesellschaftsküssen, die angesichts der auftretenden Aerosolwirbel
       fast schon als justiziabel gelten.
       
       Was kommt als Nächstes? Die Rückkehr zu militärischen Begrüßungsformen aus
       der Kaiserzeit? Salutieren? Sich an den Hut tippen? Den rechten Arm
       hochreißen?
       
       Als wir noch nicht von Öffnungsorgien träumten, hatten wir einfach welche.
       Schubberten aneinander bei überfüllten Konzerten, drängten uns durch Mengen
       feuchtwarmer Körper auf Tanzflächen und inhalierten fröhlich die Alkohol
       gesättigten Ausdünstungen der Nachbar-Nachtschwärmer:innen in schlecht
       gelüfteten Etablissements. Menschen, die wir gelegentlich und in
       gegenseitigem Einvernehmen auch drückten/knutschten/ableckten.
       
       Nach einem Jahr Social Distancing können wir uns über zu viel Nähe nicht
       mehr beklagen. Vielleicht haben wir gelernt, auch bei einem „harmlosen“
       Schnupfen in Zukunft zu Hause zu bleiben, anstatt ins Büro zu rennen. Aber
       ansonsten: Ringelpiez mit Anfassen! Bitte möglichst bald. Und viel.
       
       Martin Reichert 
       
       ## Die Arbeitswelt
       
       Die Coronakrise zeigt Millionen von Angestellten und vielen
       Arbeitgeber:innen: Arbeiten kann man auch zu Hause. Die Pandemie hat zu
       einer enormen Stärkung des Homeoffice geführt – und laut Studien steigen
       Arbeitszufriedenheit und Produktivität von Beschäftigten dort. Davon
       profitieren auch Unternehmen. „Beschäftigte schätzen die Selbstbestimmung
       als größten Vorteil“, sagt die Soziologin Ivonne Lott von der
       gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
       
       Das gilt allerdings nur, wenn die Arbeit zu Hause freiwillig und nicht
       verordnet ist. Die größere Flexibilität ist ein wichtiger Punkt: Wer im
       Homeoffice ist, kann schnell reagieren, wenn das Kind krank von der Kita
       abgeholt werden muss und keine lange Anfahrt nötig ist. Frauen nutzen
       Homeoffice anders als Männer, weiß die Soziologin. „Weil Frauen immer noch
       den Löwenanteil der Sorgearbeit tragen, ist ihr Arbeitsalltag
       zersplitterter“, berichtet sie.
       
       Doch die neue Arbeitswelt hat auch eine Kehrseite. „Fehlt die räumliche
       Trennung, schwappt die Arbeit schnell ins Privatleben“, sagt Lott.
       Beschäftigte können schlechter abschalten, der Kontakt zu den
       Kolleg:innen fehlt.
       
       Um das Positive nach der Pandemie zu erhalten, muss eine gute Mischung
       zwischen Präsenzarbeit und Homeoffice gefunden werden, sagt Lott. Sie
       plädiert dafür, das Recht auf Homeoffice zu verankern, damit die Arbeit von
       zu Hause aus als etwas Normales empfunden wird. Denn nur dann können
       Beschäftigte entspannt arbeiten und fühlen sich nicht unter
       Rechtfertigungsdruck. Betriebliche Regelungen sind erforderlich, etwa um
       eine gute Balance zwischen Privatleben und Arbeit zu gewährleisten.
       
       Besprechungen via Internet sind seit 20 Jahren möglich, haben aber erst
       jetzt weite Verbreitung gefunden. Nach Corona werden Videokonferenzen
       Geschäftsreisen ersetzen. Künftig wird in Deutschland im Vergleich zu 2019
       ein Drittel aller Dienstreisen entfallen, erwarten
       Wissenschaftler:innen des Berliner Borderstep-Instituts für Innovation
       und Nachhaltigkeit. Sie haben im Auftrag des Verkehrsclubs Deutschland
       (VCD) Geschäftsleute befragt, wie oft sie bisher aus dienstlichen Gründen
       gereist sind und was sie für die Zukunft erwarten. Da die meisten
       Dienstreisen mit dem Auto oder dem Flugzeug erfolgen, würde bei einem
       Rückgang um ein Drittel ein CO2-Ausstoß von 3 Millionen Tonnen vermieden,
       sagen die Forscher:innen.
       
       Anja Krüger 
       
       ## Die Live-Politik
       
       Wer früher Phoenix guckte, hatte auch ein Abo von c’t („Magazin für
       Computertechnik“), trug Bundfaltenhosen und sammelte Spielzeugpanzer. Alle
       anderen interessierten sich nicht für die Live-Übertragungen aus den
       Plenarsälen von Schwerin oder Berlin. Ich konnte stundenlang die russische
       Invasion in Grosny während des Ersten Tschetschenienkrieges in
       mitternächtlichen TV-Livestreams gucken. Aber ich entwickelte Antikörper
       und Abwehrsymptome, wenn ich Berufspolitiker:innen mit ihren
       rudernden Armen, kieksenden Stimmen und drohenden Zeigefingern sprechen
       hörte, die ihre Sätze immer mit einem donnernden „meine Damen und Herren“
       beendeten.
       
       Heute aber bin ich polytoxikomaner PK-Junkie. Durch die unfreiwillige
       Teilnahme an drei Ausnahmezuständen (Brexit, Trump, Corona) sind Leute wie
       ich zu Bingewatchern von Plenardebatten, parlamentarischen Anhörungen und
       Ausschusssitzungen geworden. Die Livestreams des britischen Parlaments, des
       Weißen Hauses, des Bundestags, der Bundespressekonferenz oder die
       Pressekonferenzen der Ministerpräsidentenkonferenzen – ich sauge alles ein.
       
       Das pandemische Politik-Bingen bietet alles, was gute Politserien auch
       bieten: neben ambivalenten Charakteren (Armin, Markus, Manuela) brutale
       Machtkämpfe („Ich kann das“), tolle Cliffhänger (stundenlanges Starren auf
       ein leeres Podium, wo die Kanzlerin die neuen Maßnahmen bekannt geben
       soll), true crime (Maskenaffäre, Toilettenpapierhandel) und Kitsch
       („Tschüß. Mach’s gut und see you“).
       
       Allerdings hat das pandemische Politik-Bingen sehr viel mit der Faszination
       von Verkehrsunfällen zu tun. Nicht, weil die Berufspolitiker:innen
       so tolle Sachen sagten, machten und um Entschuldigung und Nachsicht baten,
       wurde man zum schwerstabhängigen PK-Konsumenten. Es war viel eher das
       fassungslose Entsetzen darüber, dass nicht nur Wissenschaftler:innen
       weniger wissen, als man so dachte, sondern dass
       Berufspolitiker:innen noch viel weniger wissen, als man so dachte.
       
       Dass Politiker:innen trotz jahrelanger Beteuerungen, für eine Pandemie
       gerüstet zu sein, nicht wussten, was zu tun ist, ist aber nur ein Unfall
       mit leichten Verletzungen. Der folgenreichere Crash liegt in der
       Erkenntnis, dass Politiker:innen nicht wissen, wie sie diese
       Unsicherheit so kommunizieren, dass sich der Respekt selbst der
       wohlwollendsten ihrer Verfolger nicht in Spott, Verachtung und Bekämpfung
       verwandelt. Das Ergebnis ist, dass ein fränkischer Hallodri es geschafft
       hat, eine Umfragemehrheit davon zu überzeugen, dass er der Einzige ist, der
       von Anfang an wusste, wie man den Laden zusammenhält.
       
       Während ich dieses Textchen schreibe, habe ich einen Livestream
       angeschaltet, der die PK der CSU-Fraktionsklausur überträgt. Ich hoffe,
       dass ich diese Sucht auch wieder abschalten kann. Denn vielleicht ist der
       fränkische Hallodri nur deswegen so erfolgreich, weil Leute wie ich ihn im
       Livestream verfolgen. Vielleicht werden Leute wie er erst wieder an
       Umfragewerten einbüßen, wenn Leute wie ich wieder weniger Pressekonferenzen
       und Ausschusssitzungen bingen.
       
       Doris Akrap 
       
       ## Der Straßenverkehr
       
       Das Wesen der Pop-up-Bikelane ist es, dass sie plötzlich auftauchte, wie
       über Nacht, und wahrscheinlich kam sie wirklich über Nacht, denn
       Straßenarbeiten werden ja für gewöhnlich nachts erledigt, um den
       Autoverkehr nicht zu behindern. Hier war es nur so, dass nach dieser Nacht,
       in der die Pop-up-Bikelane kam, der Autoverkehr sich dauerhaft würde
       einschränken müssen.
       
       So schnell kamen diese Lanes, dass die Zeit sogar zu knapp war, einen
       passenden deutschsprachigen Namen zu finden, deshalb benutzen nun alle den
       englischen Begriff. Aufgeploppte Fahrradspur würde passen, aber dafür ist
       es jetzt zu spät, zumal diese Straßenräume, die mittels gelber Linien oder
       rot-weiß gestreifter Baken dem Autoverkehr abgeknapst wurden, zumindest in
       Berlin verstetigt werden. Die bleiben, und damit ist klar, dass die
       Mobilität mittels Fahrrad eindeutig gewonnen hat durch die Coronapandemie.
       
       Wobei natürlich auch der Autoverkehr gewonnen hat, so muss man es sehen.
       Der hat zwar nun weniger Platz, aber die Räume sind klarer verteilt, Räder
       und Autos kommen sich nicht mehr so leicht ins Gehege, das schafft weniger
       Streit, weniger Stress, weniger brenzlige Situationen – mehr Sicherheit für
       alle.
       
       Es war Felix Weisbrich, der inzwischen weltberühmte Leiter des Straßen- und
       Grünflächenamtes im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin, der die
       Idee hatte, angesichts der coronabedingt geltenden Abstandsregeln den Raum
       für die steigende Anzahl von Radfahrern zu vergrößern. Ein Verwaltungsmann
       also, der aufgrund tiefer Kenntnis diverser Gesetzestexte einen schließlich
       auch gerichtsfesten Weg fand, das zu tun, wofür „die Politik“ in
       langwierigen Prozessen unendlich viel mehr Zeit benötigt hätte.
       
       Selten hat jemand aus einer Krisensituation heraus so klug und der Zukunft
       zugewandt gehandelt wie Weisbrich. Vielleicht ist so etwas beispielgebend
       auch für andere Amtsleute.
       
       Felix Zimmermann 
       
       ## Die Maske
       
       Wer den kulturellen Chauvinismus der westlichen Welt verstehen will, soll
       sich den Eiertanz ums Maskentragen anschauen. Da waren sich noch im
       Frühjahr 2020 Leute [1][wie Michael Ryan], der Nothilfedirektor der
       Weltgesundheitsbehörde WHO, [2][aber auch Lothar Wieler], Präsident des
       [3][Robert-Koch-Institut]s, und der Gesundheitsminister [4][Jens Spahn]
       sicher, dass es nichts bringt, in einer Pandemie Mund und Nase zu bedecken.
       Was sie damit zum Ausdruck brachten: Länder wie China, Japan, Korea, wo es
       selbstverständlich ist, Mund und Nase zu bedenken, wenn man erkältet
       unterwegs ist, zählen nicht. Wie man so etwas nennt? Kulturelle Arroganz
       wohl.
       
       Das wirklich Gute: Millionen Frauen weltweit haben sich dennoch hingesetzt
       und Mund-Nasen-Bedeckungen genäht, trotz solch unbewiesener Behauptungen
       bezüglich deren Nutzlosigkeit. Die Frauen haben es getan, weil sie etwas
       tun wollten, um ihre Familien zu schützen, weil sie gesehen haben, wie sehr
       die Krankenschwestern in den Hospitälern unter dem Maskenmangel litten.
       
       Erst als die ersten Studien nachgewiesen hatten, dass Masken schützen,
       änderte sich die Rhetorik von Politiker:innen, dem RKI, der WHO. Und was
       kriegten die Studien raus? Mund-Nasen-Bedeckungen schützen erheblich. Sie
       schützen nicht nur die anderen, sondern auch die Leute, die sie tragen. Die
       Selbstgenähten der Frauen [5][schnitten dabei so gut ab] wie medizinische
       Masken, wenn sie aus Baumwolle oder Seide und mehrlagig waren.
       
       Das wiederum hat die Politiker hierzulande nicht davon abgehalten, im Laufe
       der Pandemie anzuordnen, dass nur noch industriell gefertigte OP-Masken,
       die den selbstgenähten in der Wirkung bestenfalls gleich sind, oder
       FFP2-Masken getragen werden dürfen.
       
       Der Vorteil für einige Politiker der CDU dabei: Sie konnten mit diesen
       Masken dank Provisionen viel Geld verdienen. Im Umkehrschluss haben sie
       damit die Leistungen der nähenden Frauen klein gemacht. Aber das gehört zum
       westlichen Kulturchauvinismus dazu, dass Leistungen von Frauen weniger
       zählen.
       
       Wie wirksam das Maskentragen und die Hygienemaßnahmen sind, zeigt sich nun
       zudem daran, dass die normale Influenza dieses Jahr so gut wie ausgeblieben
       ist. Laut RKI gab es in der laufenden Grippesaison 2020/2021 bis Ende April
       [6][541 Influenza-Fälle]. Vor einem Jahr waren es über 185.000.
       
       Daraus könnte abgeleitet werden: Wer in Zukunft eine Erkältung oder Grippe
       hat, soll, so er oder sie unterwegs ist, Nase und Mund bedecken. Gut
       möglich, dass es in den westlichen Ländern jedoch nicht so weit kommt. Weil
       das erneut einen Kniefall vor der Kultur Asiens bedeutete. Es sei denn,
       dass auch dieses Mal die Frauen ihre selbstgenähten Masken hervorholen und
       sich und andere damit schützen. Unter dem Hashtag
       #FrauenhörennichtaufMänner sollte das die Runde machen.
       
       Waltraud Schwab 
       
       ## Die kulturelle Teilhabe
       
       Kunstwerke haben auch im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
       eine Rest-Aura. Das jedenfalls bewirkten etwa 100 Jahre nach dem
       Benjamin’schen Diktum über den Aura-Verlust der Kunst die pandemiebedingten
       Einschränkungen. Allein die Erinnerung an Ausstellungen, Theaterstücke oder
       Konzerte trieb Tränen der Rührung in die Augenwinkel – ein indirekter
       Aura-Beweis.
       
       Kunstbegegnungen, wie wir sie kannten, fanden weitgehend nicht statt. Den
       Ausstellungshäusern traute die kulturferne Politik nicht zu, die auch in
       Normalzeiten oft überschaubaren Publika in meist mit sehr viel Luft
       gefüllten Sälen unter Wahrung aller Abstandsregeln zu empfangen.
       
       Theater und Konzertveranstalter waren noch stärker erschüttert. Denn ihre
       Kunstformen setzen meist auf Versammlungen von eher vielen Menschen
       Schulter an Schulter, Mund an Nacken. Diese Not führte zur Entwicklung
       diverser digitaler Bühnen: Livekommunikation mithilfe von
       Messengerdiensten und Videokonferenzen, Aufführungen in virtueller und
       erweiterter Realität. Geteilte Zeit statt gemeinsam besuchter Ort war hier
       oft das Motto. In Hybridmodellen, mit Handy oder Laptop zu Hause, unterwegs
       oder in einem Theaterbau wären solche Praktiken auch über die Pandemie
       hinaus reizvoll.
       
       Das größte Potenzial verspricht für das Theater die erweiterte Realität.
       Bühnen- oder Stadträume können digital überschrieben werden. Das klassische
       Format des Audiowalks erfährt so seine dreidimensionale Erweiterung.
       
       Abzusehen ist, dass die alte Bühnen- und Konzertrealität mit ihrem
       ausdifferenzierten System an geförderten Institutionen,
       privatwirtschaftlich agierenden Unternehmer*innen und frei
       flottierenden Künstler*innen nach der ultimativen Öffnung so nicht
       wiederkehrt. Zwei Unsicherheitsfaktoren belasten die Branche: Wie viele
       Leute trauen sich überhaupt wieder in geschlossene Räume mit vielen
       anderen? Und als wie wichtig wird nach dem postpandemischen Kassensturz
       Kulturförderung eingeschätzt? Angesichts des marginalen Stellenwerts von
       Kultur schon während der Pandemie droht eine neue Kahlschlagswelle. Und der
       Mensch selbst läuft Gefahr, als Kulturwesen zu verkümmern.
       
       Tom Mustroph 
       
       ## Die Arznei-Entwicklung
       
       Als der Krebsforscher und Biontech-Gründer Uğur Şahin Ende August 2020 nach
       der Zukunft der Arzneimittelentwicklung gefragt wurde, war das neue
       Coronavirus gerade mal acht Monate bekannt – und das Covid-Vakzin des
       Mainzer Unternehmens schon fast auf dem Weg zur Zulassung.
       
       Impfstoffe sind eine, wenn nicht die Erfolgsgeschichte der Pandemie. Corona
       hat die Translation von Forschung in die Klinik, die sonst bis zu 15 Jahre
       Zeit erfordert, auf die Dauer von einem Jahr zusammenschnurren lassen. Ein
       Exempel, geboren natürlich aus der Not.
       
       Dennoch ist klar, dass dieses Beispiel für die Pharmaindustrie Folgen haben
       wird. Zumindest steht nicht nur für Şahin fest, dass die Entwicklung von
       Arzneimitteln schneller werden muss. Kontrolle ja, natürlich. Aber weniger
       bürokratische Hürden, mehr Ressourcen, weniger Wartezeiten im
       Zulassungsverfahren – damit könnte es in Zukunft schneller gehen, und das
       nicht nur bei der Entwicklung von Impfstoffen.
       
       Für hochentwickelte Industriestaaten mag diese Perspektive so
       funktionieren, zumal neue Technologien hier schon existieren und auch
       umgesetzt werden können. Dennoch zeigt die Krise aktuell sehr deutlich,
       woran es mangelt und weiter mangeln wird, wenn allein der
       Translations-Turbo eingelegt wird.
       
       Indien etwa befindet sich seit März im pandemischen Ausnahmezustand mit
       offiziell Hunderttausenden Neuinfektionen täglich, Dunkelziffer unbekannt.
       Befördert wird die zweite Welle nicht zuletzt dadurch, dass das Land mit
       der weltweit viertgrößten Produktion von Covid-Impfstoffen fast keine
       Coronavakzine für seine Bevölkerung hat.
       
       Nicht einmal zehn Prozent der Inder:innen sind einfach geimpft, mehr als
       neunzig Prozent der knapp 1,4 Milliarden Menschen dort sind dem Virus
       schutzlos ausgeliefert. Zu allem Überfluss verbreitet sich in Indien eine
       mutmaßlich sehr ansteckende Variante von Sars-CoV-2 besonders rasant.
       Viele andere Entwicklungs- und Schwellenländer erleben ähnliche
       Gemengelagen aus starker Virusverbreitung, Mutantenbildung und zugleich
       sehr niedriger Impfquote.
       
       Für Gerechtigkeit, was den Zugang zu Arzneien angeht, nicht nur während
       einer Pandemie, sind deshalb auch politische und wirtschaftliche
       Veränderungen nötig, die sich auch nicht in der zeitweisen Aufhebung des
       Patentschutzes erschöpfen können.
       
       Denn was soll ein Staat wie Indien mit einem Kochrezept für einen modernen,
       aber empfindlichen Impfstoff wie jenem von Biontech – wenn weder die
       nötigen Rohstoffe, noch Speziallabors noch Kühlketten für Herstellung und
       Transport im Land selbst verfügbar sind?
       
       Kathrin Zinkant
       
       15 May 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.allgaeuer-zeitung.de/leben/rki-nur-541-influenza-f%C3%A4lle-seit-herbst-in-deutschland-grippewelle-2020-2021-ausgefallen_arid-227367
   DIR [2] https://www.facebook.com/watch/?v=728814587525394
   DIR [3] https://www.nzz.ch/international/hat-das-rki-im-kampf-gegen-corona-versagt-ld.1601044
   DIR [4] https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/03/31/spahn-und-laschet-gegen-maskenpflicht-in-deutschland
   DIR [5] https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/coronavirus/studie-zu-mundschutz-selbstgenaeht-fast-so-gut-wie-ffp2-wenn-man-es-richtig-macht/?tx_aponews_newsdetail%5B%40widget_3%5D%5BcurrentPage%5D=2&tx_aponews_newsdetail%5B%40widget_3%5D%5BitemsPerPage%5D=1&cHash=9e54f42aa2648e0ed227388389c04579
   DIR [6] https://www.allgaeuer-zeitung.de/leben/rki-nur-541-influenza-f%C3%A4lle-seit-herbst-in-deutschland-grippewelle-2020-2021-ausgefallen_arid-227367
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Reichert
   DIR Waltraud Schwab
   DIR Felix Zimmermann
   DIR Doris Akrap
   DIR Kathrin Zinkant
   DIR Anja Krüger
   DIR Tom Mustroph
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Geschlechterfragen während Corona: Kein Zurück
       
       Frauen und Männer sind durch die Pandemie nicht in alte Rollen
       zurückgefallen. Sie müssen aber mehr verhandeln, wer welche Aufgaben
       übernimmt.
       
   DIR Kolumne Immer bereit: Jammern ist ein Privileg
       
       Mütterhass ist die konsensfähigste Form der Frauenverachtung.
       taz-Kolumnistin Lea Streisand rät Müttern gerade deshalb zum öffentlichen
       Jammern.
       
   DIR Sozialarbeiter zu Corona und Armut: „Es ist einfach schrecklich“
       
       Weite Teile Offenbachs sind soziale Brennpunkte und deshalb vom Coronavirus
       besonders betroffen. Ein Gespräch mit dem Migrationsberater Ali Karakale.
       
   DIR Abgeordneter über EU-Impfstrategie: „Wir müssen jetzt offensiv sein“
       
       Die Impfung werde Corona schnell den Schrecken nehmen, meint der
       konservative Parlamentarier Peter Liese. Die EU sei mit ihrer Strategie
       weit vorn.
       
   DIR Versäumnisse in der Coronaforschung: Es fehlen die Daten
       
       Über ein Jahr schon versetzt uns Covid-19 in den Ausnahmezustand. Viele
       Fragen hätte die Wissenschaft schon längst beantworten können.