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       # taz.de -- Geschlechterfragen während Corona: Kein Zurück
       
       > Frauen und Männer sind durch die Pandemie nicht in alte Rollen
       > zurückgefallen. Sie müssen aber mehr verhandeln, wer welche Aufgaben
       > übernimmt.
       
   IMG Bild: Hauptsache mal raus: Karneval im Autokino, in Köln 2021
       
       Erfahren Frauen durch die Pandemie eine „entsetzliche
       Retraditionalisierung“? Verlieren wir durch Corona im Ringen um
       Gleichstellung der Geschlechter drei Jahrzehnte? Diese These steht im Raum,
       seit die Soziologin Jutta Allmendinger sie in einer Talkshow aufgestellt
       hat. Aber stimmt sie auch?
       
       Betrachten wir es nüchtern. Corona hat – das zeigen sowohl
       wissenschaftliche Untersuchungen als auch der Alltag vieler Menschen –
       offengelegt, was hierzulande schiefläuft, aber seit langem bekannt ist:
       Frauen waschen häufiger als Männer die Wäsche, sie kümmern sich intensiver
       um die Kinder und um pflegebedürftige Angehörige, sie kaufen öfter ein,
       kochen mehr und putzen häufiger das Klo. Mit Zahlen einer [1][Studie der
       Hans-Böckler-Stiftung] ausgedrückt, klingt das so: Frauen leisten täglich
       drei Stunden Haus- und Care-Arbeit, Männer zwei.
       
       An dieser Situation hat sich in manchen Familien in den vergangenen
       Coronamonaten auch nicht viel geändert. Im Gegenteil, insbesondere für
       Alleinerziehende – das sind vor allem Frauen – hat sich diese
       Ungerechtigkeit sogar verschärft. Sie leiden derzeit noch stärker an
       Überarbeitung und Ermüdung als sonst, teilweise bis an den Rand der totalen
       Erschöpfung. Aber auch Eltern, die gemeinsam Kinder betreuen, sind durch
       Homeoffice und Homeschooling stärker belastet als gewöhnlich. Trotzdem gibt
       es Familien, die durch und in der Krise der Pandemie die Care-Arbeit
       gerechter aufteilen.
       
       [2][Nach einer Untersuchung der Soziologin Michaela Kreyenfeld, Professorin
       an der Hertie School of Governance,] wendeten Frauen zu Beginn des ersten
       Shutdowns noch doppelt so viel Zeit für die Kinderbetreuung auf als Männer.
       Aber das änderte sich rasch. Schon im zweiten Shutdown betreuten Eltern
       ihre Kinder überwiegend gleichermaßen.
       
       ## Eher eine Umkehr als ein Rückfall
       
       Laut besagter Studie der Hans-Böckler-Stiftung verdoppelte sich während der
       Pandemie die Zahl der Männer, die den Hauptanteil der familiären
       Sorgearbeit tragen, von 6 auf 12 Prozent. Auch die Soziologin Anja
       Steinbach von der Universität Duisburg-Essen kommt nach einer
       Datenauswertung des Familienpanels „Pairfam“ zu der Erkenntnis, dass Corona
       „keinen extremen Traditionalisierungsschub gebracht“ hat.
       
       Ein Grund dafür sind sogenannte Frauenberufe – vor allem im medizinischen
       und Dienstleistungssektor, die plötzlich systemrelevant sind und mehr denn
       je gebraucht werden. Es sind hauptsächlich Frauen, die das öffentliche
       Leben und die medizinische Versorgung gewährleisten, während Männer dem
       Institut für Arbeits- und Berufsforschung zufolge ihren Job insbesondere in
       Logistik- und Verkehrsunternehmen verloren haben. Wenn Frauen auf den
       Coronastationen, in den Pflegeheimen, an der Supermarktkasse, in Kitas
       während der Notbetreuung arbeiten, müssen Männer nun zu Hause kochen,
       putzen, mit den Kindern den Schulstoff durchgehen. Die angebliche
       Retraditionalisierung ist also eher eine (wenn möglicherweise auch
       temporäre) Umkehr jahrhundertealter Rollenmodelle.
       
       Kreyenfelds Untersuchung hat zudem einen interessanten Aspekt zutage
       gefördert: Entgegen der Annahme, dass akademische und somit
       gleichstellungspolitisch aufgeklärte Väter die Geschlechtergerechtigkeit
       voranbringen, sind es Männer mit niedrigen und mittleren Abschlüssen, die
       jetzt notgedrungen in eine für sie teils neue Rolle schlüpfen: die des
       aktiven Vaters.
       
       Während in ärmeren Familien bei der Verteilung der Care-Arbeit die monetäre
       Frage dominiert, ist es bei den Akademikerfamilien die Angst vor verpassten
       Karrierechancen. Auch in der Pandemie und vom Homeoffice aus müssen
       Berichte geschrieben, Teams geleitet, Entscheidungen getroffen werden.
       Selbst wenn Firmenchef:innen zunehmend Rücksicht auf Eltern nehmen,
       Stundenreduzierungen zustimmen und flexible Arbeitszeiten genehmigen – am
       Ende des Tages muss geliefert werden. Da ist es egal, ob eine Frau oder ein
       Mann in der Pflicht ist.
       
       Welche Rolle Erwerbstätigkeit trotz Elternschaft spielt, zeigt eine Umfrage
       der Universität Bamberg unter sogenannten Regenbogenfamilien, Familien
       also, bei denen die Eltern zum Beispiel schwul oder lesbisch sind. „Ihre
       Berufstätigkeit bedeutet für sie Spaß, Selbstverwirklichung,
       Selbstbestätigung, Sicherung des Lebensstandards und/oder finanzielle
       Unabhängigkeit“, heißt es in der Studie. Die ist allerdings vor Corona
       entstanden, aber dennoch ein Gradmesser für die Bedeutung von Erwerbsarbeit
       bei Eltern. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass bei homosexuellen Paaren
       zunächst nicht von den klassischen Rollenklischees und -zuschreibungen
       ausgegangen werden kann, das simple Frau-bleibt-zu-Hause-Muster zieht an
       dieser Stelle nicht.
       
       ## 79 Prozent der Männer finden Gleichstellung wichtig
       
       Das lässt sich durchaus übertragen auf heterosexuelle Paare in der Zeit
       nach Corona. Nach eineinhalb Jahren Pandemie mit Homeoffice, Homeschooling
       und einem auf ein Minimum heruntergefahrenen Dasein ohne Kultur,
       Gastronomie und öffentlichem Leben sehnen sich die Menschen danach, „raus“
       zu können. Auch raus aus dem Homeoffice und rein ins Büro. Umfragen haben
       hier keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern feststellen können.
       Nach der Pandemie sind die meisten froh, zu ihren Kolleg:innen
       zurückkehren zu können und persönliche Kommunikation gegen Zoom-Runden zu
       tauschen. Warum sollten Frauen weiterhin freiwillig zu Hause bleiben, wenn
       Kitas und Schulen wieder geöffnet sind? Warum sollten sie, wenn sie vorher
       zufriedenstellend gearbeitet haben, sich das wieder nehmen lassen?
       
       Und warum sollten junge Frauen, die in dem Bewusstsein groß geworden sind,
       dass sie beides gleichermaßen haben können – Kinder und Karriere – zu einem
       Leben zurückkehren, das ihre Eltern zur Zeit des Mauerfalls geführt haben?
       Damals arbeiteten im Westen 83 Prozent der Männer und 58 Prozent der
       Frauen. In den neuen Bundesländern hingegen gab es bekanntermaßen eine
       „ungebrochen hohe Erwerbsneigung der ostdeutschen Frauen“, um den damaligen
       sächsischen CDU-Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf zu zitieren. Diese
       „ungebrochen hohe Erwerbsneigung der ostdeutschen Frauen“ sorgte mit dafür,
       dass heute bundesweit 73 Prozent der Frauen erwerbstätig sind.
       
       Berufstätigkeit von Frauen gehört heute zum Standard. Viele Frauen wollen
       nicht nur einen Job, um finanziell unabhängig zu sein, sie wollen Karriere
       machen, Führungspositionen einnehmen. So wie viele junge Männer heute weit
       davon entfernt sind, in die einstige Ernährerrolle zu schlüpfen. Sie wollen
       weder allein für das finanzielle Wohl der Familie sorgen müssen noch
       vorrangig für familiäre Entscheidungen zuständig sein.
       
       Heute finden laut Umfragen [3][79 Prozent der Männer Gleichstellung
       wichtig], es ist immer häufiger von „fürsorglicher Männlichkeit“ die Rede.
       Vier von zehn Vätern nehmen heute Elternzeit. Das ist immer noch zu wenig
       und es sind meist auch nur zwei Monate, die die Männer ausschließlich ihren
       Babys widmen. Aber die Zahl der Väter, die ihre Arbeitszeit wegen der
       Kinder reduzieren, beträgt dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen
       Institut zufolge mittlerweile 16 Prozent.
       
       ## Reflektiert und selbstständig
       
       Rückfall in längst überholte Rollenmuster? Nein. Die Gesellschaft ist
       längst viel weiter. Und sie lässt sich das durch Corona nicht nehmen.
       
       Trotzdem bleibt ein Problem, das weniger ein strukturelles als ein
       individuelles ist: Paare müssen Verantwortlichkeiten in der Sorge- und
       Hausarbeit immer wieder neu aushandeln, mitunter täglich. Das können schon
       mal harte Kämpfe zwischen Eltern und Lebenspartner:innen sein. Nicht
       selten werden diese Kämpfe zum Nachteil von Frauen entschieden. Manche
       Frauen seien eher bereit, weiß Milan Renner, Sprecher der Berliner
       Initiative „Eltern in der Krise“, „sich an veränderte Rahmenbedingungen
       anzupassen und aufzuopfern“. Das sei der beste Weg in den Burnout. Um ihn
       zu vermeiden, sollten Männer „reflektiert selbstständig Verantwortung
       übernehmen“. Auch wenn es bequemer sei, in die klassische Rollenverteilung
       zu verfallen. Was hilft? Renner hat eine Idee: „Ein Arschtritt der Frau.“
       
       16 May 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-unbezahlte-arbeit-frauen-leisten-mehr-3675.htm
   DIR [2] https://www.diw.de/de/diw_01.c.794319.de/publikationen/diw_aktuell/2020_0051/kinderbetreuung_in_corona-zeiten__muetter_tragen_die_hauptlast__aber_vaeter_holen_auf.html
   DIR [3] https://www.bmfsfj.de/resource/blob/160754/f4f3a6b03c6e7451f56ab68ddea28ff8/gleichstellungspolitik-fuer-jungen-und-maenner-in-deutschland-langfassung-data.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
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