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       # taz.de -- Blockchain-Technologie: Mittelsmänner raus!
       
       > Blockchain setzt auf Dezentralität und kann menschliches Versagen
       > verhindern. Doch kann man der Technologie vertrauen?
       
   IMG Bild: Über 69 Millionen Dollar für eine Datei: Die Collage „Everydays: The First 5000 Days“
       
       Vor wenigen Wochen wurde im [1][Auktionshaus Christie’s in New York ein
       Gemälde für 69 Millionen Dollar] versteigert. Die Collage „Everydays: The
       First 5000 Days“ des Künstlers Mike Winkelmann, besser bekannt als Beeple,
       ist das drittteuerste Gemälde eines lebenden Künstlers. Wertvoller als ein
       Richter oder Picasso. Doch das Kunstwerk existiert gar nicht physisch,
       sondern rein digital – als Datei. Um seine Rechte an dem Bild nachzuweisen,
       hat der neue Eigentümer einen Non-Fungible Token, kurz NFT, erworben.
       
       Dahinter verbirgt sich ein fälschungssicheres Zertifikat, das auf einer
       Blockchain hinterlegt ist. Die Blockchain ist eine Art dezentrales
       Buchhaltungssystem, das aus digitalen Datenblöcken besteht. In jedem Block
       sind Daten zusammengefasst, etwa Transaktionsdaten bei [2][Kryptowährungen
       wie Bitcoin.] Da steht dann zum Beispiel: „A hat B 1 Bitcoin bezahlt.“ Man
       kann es sich ein wenig wie das Kinderspiel „Ich packe in meinen Koffer“
       vorstellen – nur dass Computer viel weniger vergesslich sind.
       
       Die Besonderheit der Blockchain besteht darin, dass die Protokolle nicht
       auf einem zentralen Server, sondern dezentral verteilt auf verschiedenen
       Rechnern ausgeführt und gespeichert werden. So kann jeder Teilnehmer die
       Korrektheit der Ketten nachvollziehen. Wer einen Datenblock manipulieren
       möchte, müsste dies auf allen Rechnern tun – was nahezu unmöglich ist. Das
       macht die Technik für verschiedene Anwendungsbereiche interessant,
       beispielsweise für Logistiksysteme, Finanzpapiere oder Zeugnisse. So hat
       der Bundesstaat New York in Kooperation mit IBM kürzlich [3][einen
       digitalen Impfpass] (Excelsior Pass) entwickelt, der auf der Blockchain
       läuft. Bürger können sich den Gesundheitspass auf einer App herunterladen
       und damit in teilnehmenden Geschäften ausweisen.
       
       In Estland können Bürger schon seit einiger Zeit Verwaltungsleistungen über
       ein Blockchain-gestütztes Dokumentationssystem in Anspruch nehmen – zum
       Beispiel einen neuen Ausweis beantragen oder eine Firma anmelden. In
       Schweden können Immobilientransaktionen wie etwa Grundstückskäufe in ein
       digitales Blockchain-Grundbuch eingetragen werden. Und auch in Deutschland
       hält die Technologie Einzug in die öffentliche Verwaltung. So
       experimentiert das [4][Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)] mit
       einer Blockchain-Lösung, die den Ablauf des Asylprozesses dokumentiert: vom
       Antrag bis zum Bescheid.
       
       ## Cutting out the middleman
       
       Das Versprechen des verteilten Registers ist es, Verfahrensabläufe zu
       automatisieren und transparent zu machen. Anträge, Urkunden, Transaktionen
       – alles ist in den Datenblöcken gespeichert und für jedermann einsehbar.
       Keine Behörde mehr, die Verfahren in die Länge zieht, keine Bank, die
       Finanzierungszusagen zurücknimmt, kein Notar, der eine Urkunde verweigert.
       
       Die Blockchain-Technologie soll intermediäre Akteure überflüssig machen.
       Cutting out the middleman, lautete der Schlachtruf der kalifornischen
       Gegenkultur. Heute heißt es: Banken sind böse! Intermediäre gelten in den
       Augen cyberlibertärer Entrepreneure als Kostentreiber, als träge
       Autoritäten in einem intransparenten System. Zwischenhändler?
       Berufskammern? Behörden? Weg damit!
       
       „Die Begeisterung für die Blockchain-Technologie entspringt zum Teil einem
       tiefen Misstrauen in private, staatliche und internationale Institutionen“,
       erklärt Michael Kolain. Der Rechtswissenschaftler arbeitet am Deutschen
       Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung, wo er sich mit
       Digitalisierungsprozessen in Staat und Gesellschaft beschäftigt. Er sagt:
       „Es ist kein Zufall, dass Bitcoin im Anschluss an die Banken- und
       Staatsschuldenkrise 2008/2009 aufkam. Statt auf Menschen zu vertrauen, die
       potenziell korrumpierbar und fehleranfällig sind, können versierte
       Informatiker:innen ihre Problemlösungsmaschinen innerhalb ihrer
       digital organisierten Community selbst bauen und testen.“
       
       Kolain hegt durchaus Sympathien für den Versuch der Krypto-Community, Staat
       und digitale Gesellschaft neu zu denken. Die Nachvollziehbarkeit und
       Vorwegnahme bestimmter Entscheidungsmuster durch eindeutigen Code und die
       manipulationsresistente Dokumentation über einen Zeitstempel habe ihren
       Reiz. Bloß: Kann man Vertrauen durch Technik herstellen?
       
       ## Der Profit von Menschen
       
       Ereignisse lassen sich auf der Blockchain fälschungssicher dokumentieren.
       Und insofern, als der Wegfall zentraler Stellen den Missbrauch von Markt-
       oder politischer Macht reduziert, profitieren Menschen. So nutzt das
       Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen die Blockchain-Technologie,
       um die Lieferketten von Nahrungsmitteln nachzuvollziehen. Allzu oft sind in
       der Entwicklungshilfe die middlemen korrupte Regierungen. Und die
       auszuschalten, dürfte wohl auf allgemeine Zustimmung stoßen.
       
       Doch wie so mancher Kryptoaktivist die Disruption des Staates herbeiredet,
       meint man darin auch demokratiefeindliche Tendenzen zu erkennen. Der
       flagrante Antiinstitutionalismus, der der Technik immanent ist, ist
       anschlussfähig an autoritäre Strömungen in der Gesellschaft, die – aus ganz
       anderen Motiven – die Axt an staatliche Einrichtungen legen wollen.
       
       Der Medienwissenschaftler David Golumbia hat in einem Aufsatz dargelegt,
       dass die Idee der Kryptowährung Bitcoin der Antibankrhetorik der
       rechtsradikalen Liberty Lobby und John Birch Society in den USA entstammt,
       die gegen jedwede Form staatlicher Regulierung opponieren. Dass Bitcoin
       auch unter den Anhängern der staatsfeindlichen Alt-Right-Bewegung viele
       Unterstützer findet, ist nicht verwunderlich.
       
       Die Extremismusforscherin Julia Ebner nannte Bitcoin die „Währung der
       extremen Rechten“: [5][Neonazis, Identitäre und Dschihadisten] teilen mit
       den Libertären das „Anti-Establishment-Gefühl“, schrieb sie in einem
       Gastbeitrag für den Guardian. Die Kryptoanarchisten könnten mit ihrer
       disruptiven Technologie nun das vollstrecken, was sich die neurechte
       Bewegung schon immer erträumte – den „tiefen“ Staat zu zerschlagen. Eine
       gefährliche ideologische Allianz scheint sich hier aufzutun.
       
       ## Die Potenziale der Technik sind groß
       
       Blockchain-Experte Kolain warnt jedoch davor, [6][die Technik zu
       verdammen]: „Nach meiner Wahrnehmung wollen viele Blockchain-Communitys in
       Kooperation mit Staat und bestehenden Institutionen gemeinwohlorientiert
       arbeiten“, sagt er. „Die dogmatischen Kryptoanarchisten sind nur
       diejenigen, die oftmals am lautesten schreien.“
       
       Womöglich tut man der Technik unrecht, wenn man sie pauschal als
       Vollstreckerin einer totalitären Ideologie verunglimpft. Nur weil jemand
       ein Werkzeug missbraucht, heißt das nicht, dass niemand es nutzen sollte.
       Die Potenziale der Technik sind groß, etwa im Bereich der
       Entwicklungshilfe, wo sich kein Kleptokrat mehr ungeniert bereichern kann.
       
       Ob man dem System vertraut, ist letztlich auch eine Frage der Kultur,
       findet Kolain. Für die einen erwecke ein menschlicher Sachbearbeiter,
       gegen dessen Entscheidung man Widerspruch einlegen und vor Gericht ziehen
       kann, mehr [7][Vertrauen als ein Open-Source-Computerprogramm].
       
       Für die anderen sei es leichter, die Vorgänge einer Software
       nachzuvollziehen als die bürokratische Logik des Rechtsstaats. Das
       Vertrauen in die Technik – und dazu zählt auch die juristische
       (Fallbearbeitungs-)Technik – steht und fällt mit der Transparenz und
       Nachvollziehbarkeit ihrer Prozesse. Und die kann am Ende keine Maschine,
       sondern nur der Mensch schaffen.
       
       19 May 2021
       
       ## LINKS
       
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