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       # taz.de -- Die Wahrheit: Elementarteilchentelepathie
       
       > Könnte der größte lebende Physikhasser Recht haben? Gab es den Urknall?
       > Oder ist am Universum doch der alte Mann mit dem langen weißen Bart
       > schuld?
       
   IMG Bild: Sollte unser zerstörerisches Wirken fortdauern, werden manche Lebewesen sogar profitieren, z.B. die Ameise
       
       Raimund blieb stehen. Er blickte hinauf zu den Sternen, und obwohl wir
       wegen der bescheuerten Mutanten noch mehr Abstand hielten als sonst, hörten
       wir ihn deutlich seufzen. „Ich hab’s immer gesagt: Physik macht
       unglücklich!“, brummte Theo. Er war der größte lebende Physikhasser,
       seitdem ihm Oberstudienrat Lohmann damals in der Zehnten eine Sieben ins
       Zeugnis schreiben wollte, und hielt bei jeder Gelegenheit donnernde Suaden,
       in denen er nachwies, dass alles Verderbenbringende auf diesem Globus das
       Werk von Physikern war.
       
       „Langstreckenbomber, Verbrennungsmotoren, Atomkraftwerke – wie viele
       Beweise braucht ihr noch?!“, sagte er, und wenn es jemand wagte,
       Computertomografen und Sonnenkollektoren als Gegenbeweise ins Feld zu
       führen, fuhr er mit einem barschen „Papperlapapp!“ dazwischen und
       behauptete, dass jeder mäßig begabte Fünfjährige dergleichen früher oder
       später mit Legosteinen zusammengestöpselt hätte.
       
       Trotzdem fanden auch wir die naturwissenschaftlichen Studien, die Raimund
       neuerdings trieb, befremdlich. „Man kann die Lockdown-Langeweile auch mit
       weniger exzentrischen Themen als Atomphysik bekämpfen“, sagte Luis. Raimund
       zuckte die Schultern. „Es wird nicht mehr lange dauern, meine alten,
       faltigen Freunde, bis wir selber in unsere Atome zerfallen, und vorher will
       ich die Dinger wenigstens persönlich kennenlernen“, sagte er: „Könnt ihr
       euch vorstellen, dass alle Materie im Weltall – also auch wir – am Anfang
       aller Zeiten auf die Größe einer Walnuss zusammengepresst war, bevor das
       alles mit dem Urknall auseinanderflog?“
       
       ## Tagelang ein Pfeifen in den Ohren
       
       Rudi, der Blödmann, der wie immer um diese Jahreszeit Heuschnupfen hatte,
       bekam einen Niesanfall, und Theo ekelte die Vorstellung sichtlich, dass
       Rudi seinen rotzverschmierten Zinken in der Walnussenge vor dem Urknall
       einmal an seiner Wange plattgedrückt haben könnte.
       
       Luis tippte sich an die Stirn. „Und du findest die Walnussnummer
       wahrscheinlicher als die Geschichte von dem alten Mann mit dem langen Bart,
       der die Welt angeblich in sieben Tagen in der göttlichen Sandkiste mit
       seinen Förmchen gebacken hat?“ – „Das ist keine Walnussnummer, sondern
       exakte Wissenschaft! Man kann den Urknall bis heute hören!“ – „Phh,
       vielleicht ist das auch das Knirschen der Backförmchen, das bis heute
       durchs All hallt!“ – „Außerdem“, mischte Theo sich ein: „Hast du mir nicht
       neulich erzählt, dass Elementarteilchen sich telepathisch verständigen und
       sich nirgendwo befinden, solange wir nicht nach ihnen suchen?!“ – „Ich …“
       
       „Und das nennst du ‚exakte Wissenschaft‘?“ – „Tja“, sagte Raimund, „das ist
       echt ein Problem.“ Er blickte erneut seufzend hinauf in die Nacht, und
       Rudi, der Blödmann, nieste so laut, dass die Astrophysiker, die in den
       einsamen Observatorien entlegener Wüsten dem Echo des Urknalls lauschten,
       sich vor Schreck die Kopfhörer runterrissen und tagelang ein Pfeifen in den
       Ohren hatten.
       
       19 May 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joachim Schulz
       
       ## TAGS
       
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