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       # taz.de -- Soziale Medien im Nahostkonflikt: Wir sind Trump
       
       > Wenn, wie derzeit in Nahost, Konflikte eskalieren, fallen in den sozialen
       > Medien alle Schamgrenzen. Welcher Weg führt aus dem Social-Media-Krieg?
       
   IMG Bild: Eine israelischen Abwehrrakete zerstört eine Rakete aus dem Gazastreifen am 17. Mai
       
       Ich war dieser Tage mehr als dankbar, dass es in Zeiten der Kriege im
       ehemaligen Jugoslawien keine sozialen Medien gab. Ich erinnere mich nur
       ungern an die unerträgliche Ignoranz einiger Zeitgenossen. Ein analoges
       „Ist ja ziemlich kompliziert bei euch da unten“, auf das viel Blödsinn
       folgte, war nicht weniger schmerzhaft als ein digitales. Aber es hatte
       weniger Reichweite und zog weniger Kommentare nach sich.
       
       Stell dir vor, du bist eine junge Mutter in Israel, du kommst gerade mit
       deinen Kindern aus dem Bunker. Du twitterst aus dem Krisengebiet, um die
       Welt aus erster Hand zu informieren. [1][Das ist ja seit dem Arabischen
       Frühling] das eigentliche Versprechen von Twitter. Und irgendein Lurch aus
       dem Homeoffice in Berlin belehrt dich per Twitter über den Konflikt, den du
       gerade am eigenen Leib durchmachst.
       
       In dieser sozialmedialen Kaputtheit gibt es keine Schamgrenzen mehr. Die
       Algorithmen, die Lager, die Desinformationen beherrschen jedes Thema. Doch
       ein bewaffneter Kampf in einer der krisenreichsten Regionen der Welt ist
       nicht der nächste Ignoranz-Fehltritt eines Friedrich Merz, über den man im
       Netz spotten darf.
       
       Personen des öffentlichen Lebens werden aufgefordert, auf Twitter Partei zu
       ergreifen, möglichst per Hashtag, nur, um sie einem Lager zuordnen zu
       können. Bezieh Position, damit ich dich bekämpfen kann! Bis dahin bekämpfe
       ich dich, weil du keine Position beziehst. Doch Meinungsbildung ist ein
       Prozess, der Zeit braucht. Aus dem Krisengebiet sehen wir unterdessen
       Bilder von Menschen, die trotz allem Frieden miteinander suchen. Wie absurd
       ist das?
       
       Die letzte Woche in den sozialen Medien ist ein Einschnitt gewesen. Wir
       müssen darüber sprechen, in welcher Form diese Plattformen den
       gesellschaftlichen Dialog zersetzen und was dagegen getan werden kann. In
       einer globalisierten Welt gibt es nur bedingt ferne Krisen. Jede Krise hat
       ihre Repräsentation vor Ort.
       
       ## Frieden auf 280 Zeichen?
       
       Das Netz wird für viele zum Hauptverhandlungsort der politischen
       Positionen. Doch auf 280 Zeichen ist nicht allem beizukommen. Mit Angriffen
       ad hominem schafft man es vielleicht in die Schlagzeilen einfallsloser
       Redaktionen. Aber man schafft es meist nicht, einen Beitrag zu leisten, der
       den Dialog vertieft, der zum besseren Verständnis beiträgt oder gar etwas
       Unerhörtes will: Frieden.
       
       Diese Woche hat gezeigt: Es braucht keinen Trump, um Twitter zu
       trumpisieren. Wir sind Trump. Die zwitschernde Kriegsführung ist Teil
       unserer Demokratie geworden. Doch auch der Hass, der sich im Netz
       ausbreitet, die Lügen und Desinformationen, die dort gestreut werden,
       tragen dazu bei, dass plötzlich wieder Fahnen vor Synagogen verbrannt
       werden, dass Menschen gegeneinander aufgebracht werden, wo es schwer genug
       ist, den Dialog zu führen.
       
       Wir müssen endlich auch über Maßnahmen für den Frieden in den sozialen
       Medien reden, die weiter gehen als der Kampf gegen die Hate Speech. Wer die
       Schmutzkampagnen gegen Annalena Baerbock letzte Woche verfolgt hat, bekommt
       eine Ahnung davon, was bis zu den Wahlen im Herbst in den sozialen Medien
       stattfinden wird. Wie wappnen sich Demokratien dagegen?
       
       ## Die Illusion der Freiheit im Netz
       
       [2][Im Dokumentarfilm „The Social Dilemma“ auf Netflix] erzählen Aussteiger
       der Tech-Szene, von welchem Menschenbild die Entwickler digitaler
       Plattformen ausgehen: vom Mensch als Produkt, nicht als Bürger.
       
       Tristan Harris, ehemals Design-Ethiker bei Google, liefert die tiefste
       Analyse: Die Aufmerksamkeitsökonomie ist in den sozialen Medien nicht nur
       eine Frage zeitlicher Ressourcen – die weit grundsätzlichere Frage ist, ob
       das menschliche Gehirn mit dem Feedback von Tausenden von Menschen
       überhaupt umgehen kann. Ob wir angesichts dieses „epileptischen Anfalls“,
       den die Meinungsattacken auslösen, verankert bleiben können in der analogen
       Welt – solange die digitale so designt ist, wie sie es derzeit ist.
       
       Die digitale und die menschliche Evolution seien letztlich derzeit nicht
       kompatibel, weil sich das digitale Design schneller anpasst als das
       menschliche Gehirn. Harris macht deutlich: Man will nicht nur die Zeit der
       Nutzer, man will alles Menschliche über diese Plattformen laufen lassen, um
       es kapitalisieren und lenken zu können.
       
       Viele Optimisten betonen die Freiheit des einzelnen Nutzers. Doch wenn wir
       diesen Aussteigern glauben, gibt es keine freie Wahl. Und Kontrolle ist
       illusorisch. Natürlich lässt sich hier und da ein Zeitlimit setzen. Doch
       die Art, wie wir uns auf die Welt, die Politik und die Menschen um uns
       herum beziehen, entzieht sich zunehmend unserer Entscheidungskraft. Einige
       Boomer, die nicht mit den sozialen Medien aufgewachsen sind, bekommen die
       Trennung von analog und digital noch hin. Für die nächsten Generationen
       geht das nicht mehr.
       
       ## „Alternative Wahrheiten“ auf Youtube
       
       Die Pandemie hat endlich die Digitalisierung vorangetrieben, doch die
       Fähigkeit, mit Medien umzugehen, nicht. [3][Laut dem IT-Branchenverband
       Bitkom verbringen Erwachsene durchschnittlich 10,4 Stunden am Tag vor
       Bildschirmen.]
       
       Die Sonderbefragung „JIMplus Corona“ zum Umgang von Schülerinnen und
       Schülern mit Medien kam zu dem Ergebnis, dass 12- bis 19-Jährige rund 260
       Minuten täglich online verbringen. Nur 60 Prozent davon im Bereich
       Unterhaltung und Spiele, der Rest ist Kommunikation und Informationssuche.
       Die meiste Zeit verbringen die Jugendlichen dabei auf Youtube, einer
       Plattform, die per Algorithmus schon mal „alternative Wahrheiten“
       einspielt.
       
       Tim Kendall, Ex-Präsident von Pinterest, der seinen Kindern keinen Zugang
       zu sozialen Medien und Bildschirmen gewährt, wird am Ende der Netflix-Doku
       gefragt, wovor er sich am meisten fürchte: „Civil War“. Bürgerkrieg.
       
       Das klingt vielleicht übertrieben. Doch wer sich derzeit Twitter ansieht,
       wer sich an die Bilder vom Sturm auf das Capitol im Januar erinnert, muss
       sich fragen, was er zum Frieden beitragen kann. Die Illusion, Widerspruch
       im Netz wäre ein Kampf gegen demokratiezersetzende Kräfte, ist nicht mehr
       aufrechtzuerhalten. Wer widerspricht, ist mittendrin.
       
       19 May 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Arabischer_Fr%C3%BChling
   DIR [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Dilemma_mit_den_sozialen_Medien
   DIR [3] https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Corona-sorgt-fuer-Digitalisierungsschub-in-deutschen-Haushalten
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jagoda Marinić
       
       ## TAGS
       
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