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       # taz.de -- „Mit einem digitalen Körper bist du nie allein“
       
       > Der Stückemarkt-Wettbewerb des Theatertreffens präsentiert zur Eröffnung
       > eine Performance aus Kanada und die szenische Lesung einer britischen
       > Autorin
       
   IMG Bild: Aus der Performance „Alaapi“ von Anne-Marie Baribeau
       
       Von Barbara Behrendt
       
       „Close your eyes and listen“ steht auf dem schwarzen Screen. Also gut,
       Augen zu. Auf den Kopfhörern wird es laut. Meeresrauschen. Ein Hund bellt.
       Kinder reden in einer fremden Sprache. Warum fröstelt einen vor dem inneren
       Auge? Jetzt wird es deutlich: heulender Wind, immer stärker. Und Autoreifen
       auf knirschendem Schnee.
       
       Eine Radiostimme lässt einen die Augen wieder öffnen – warnt vor einem
       Eisbären, der den Arzt gejagt habe. Auf der Bühne jetzt ein weißes Haus wie
       ein großes Zelt, durchs Fenster sieht man eine junge Inuit-Frau am Tisch
       sitzen und an etwas basteln. „Ohrringe, hübsch!“, sagt die ältere Frau, die
       zu Besuch kommt. Dann eine Alltagsunterhaltung: „Warst du Angeln?“ „Nein,
       da ist ein Eisbär.“ „Ist o. k., ich habe eine Waffe.“ Die Frauen sprechen
       inuktitut, französisch und englisch, untertitelt wird allein auf Englisch.
       
       Die Kanadierin Laurence Dauphinais hat diese dokumentarische Performance
       recherchiert und inszeniert – ursprünglich zum Gründungsjubiläum Kanadas,
       das diverse Kunstprojekte förderte. Nancy und Ulivia, die Frauen auf der
       Bühne, sind indigene Performerinnen, die uns in den Alltag in der Arktis
       mitnehmen. So wenige Menschen leben hier, dass man die Kinder übers Radio
       ausrufen lässt, wenn das Mittagessen auf dem Tisch steht. Viele studieren
       im „Süden“, etwa in Montreal. Oft pendeln die Jungen zwischen zwei
       Kulturen, zwei Welten.
       
       „Aalaapi“ heißt die Produktion, übersetzt: „Sei still, damit du etwas
       Schönes hören kannst.“ Eine poetische Inszenierung, deren bombastische
       Soundtechniken und Lichtspiele im Theatersaal sicher eindringlicher wirken
       als am Bildschirm. Allerdings auch kein ästhetisch ungewöhnlicher Ansatz –
       Doku-Theater hat Konjunktur; und das Einbeziehen von Laien oder Performern
       aus der jeweiligen Minderheit ist inzwischen ein Muss.
       
       Der Auswahl für den Stückemarkt zugrunde lag kein Text, sondern eine
       Aufzeichnung dieser Inszenierung. Es gehört zu den Skurrilitäten des
       Wettbewerbs, seit einigen Jahren Performances und theatrale Projekte
       einzubeziehen, schließlich könne man deren Erfinder:innen auch
       Autor:innen nennen. Das ist im Grunde nicht falsch – nur trifft man beim
       Stückemarkt vielfach auf Inszenierungen, die auf Sprache generell wenig
       Wert legen. (Nebenbei: Beim Eröffnungsgespräch waren sich die diesjährigen
       Kandidat:innen selbst nicht alle sicher, ob sie sich als „Autor:in“
       bezeichnen würden.) Und, zweites Problem: Unmöglich für die Preisjury, aus
       geschriebenen Stücken und aufgezeichneten Performances fair einen
       Preisträger zu ermitteln – das ist, als solle man zwischen Lieblingsbuch
       und Lieblingsfilm entscheiden.
       
       Ein geschriebenes Stück hat jedenfalls die britische Autorin Eve Leigh
       vorgelegt. „Midnight Movie“ besteht aus Textsplittern, die den Clicks der
       von chronischen Schmerzen geplagten Protagonistin folgen, die durch die
       schlaflose Nacht surft. Digitale Gespenster werden hier beschworen, von
       einem Internetfenster wird ins nächste geschaltet – ein unverbundener Wust,
       der aber mit starken Bildern, Ängsten, Albträumen spielt. In den
       Anmerkungen verweist Leigh auf Gebärdensprache, auf Audiodeskription, die
       man für die Inszenierung bedenken solle, auf das Einbeziehen behinderter
       Menschen. Das Thema Inklusion wird durch die vermutlich behinderte
       Protagonistin ins Stück gewebt.
       
       Für „Midnight Movie“ ist die digitale Präsentation ein Gewinn: Die
       gehörlose Schauspielerin Kassandra Wedel guckt in die Kamera ihres
       Rechners, als säßen wir gemeinsam im Zoom-Meeting, scrollt sich durchs Netz
       und gebärdet den Text. Das ist gewöhnungsbedürftig, und um etwas zu
       verstehen, liest man besser die englische Originalfassung am Bildschirm
       mit. Und doch entwickelt das digitale Gespensterstück auch einen digitalen
       Sog. „Mit einem digitalen Körper bist du nie allein“, gebärdet und spricht
       Wedel ausdrucksstark.
       
       Wer nicht fließend Englisch spricht, der kann sich den diesjährigen
       Stückemarkt allerdings sparen. Manches ist übersetzt, vieles nicht – die
       Autor:innen kommen aus den USA, Großbritannien und Kanada. Denn, noch so
       eine Seltsamkeit, der Stückemarkt ist seit 2019 international, seitdem
       fehlen deutschsprachige Stimmen fast komplett. 361 Einsendungen aus 63
       Ländern gab es für diese Ausgabe, darauf ist man stolz. Dass die
       fünfköpfige Jury davon nur einen Bruchteil gelesen hat, dass man mit bis zu
       30 zusätzlichen Lektor:innen arbeitet, dass viele Einsendungen
       Übersetzungen aus anderen Sprachen sind – und was das alles für die
       Qualität dieses Wettbewerbs bedeutet, das will anscheinend niemand so genau
       wissen.
       
       Inhaltlich haben sich die Auswählenden jedenfalls für Trendthemen
       entschieden: Barrierefreiheit, Inklusion, Präsentation marginalisierter
       Bevölkerungsgruppen, eine aktivistische Performance für People of Colour.
       Das einzige Stück, das mit einer ausgearbeiteten Dramaturgie und mit
       Sprachbewusstsein arbeitet, ist Sam Max’ „Coop“ – ein Stück über eine
       düstere Kindheit in derartiger Isolation, dass ein Lockdown dagegen wie das
       Paradies auf Erden wirkt. Wie Charlotte Sprenger das szenisch einrichtet,
       dafür lohnt sich am Samstag womöglich doch noch mal der Blick auf die
       digitale Stückemarkt-Bühne.
       
       21 May 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Behrendt
       
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