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       # taz.de -- Erinnerungskultur in Belarus: Party statt Parade
       
       > Das Ende des Zweiten Weltkrieges wird in diesem Jahr anders begangen als
       > sonst. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 83.
       
   IMG Bild: Feierlichkeiten am „Tag des Sieges“ auf dem Platz des Sieges in Minsk
       
       Am 9. Mai wurde in Belarus der Tag des Sieges im Zweiten Weltkrieg
       begangen. In einem Land, in dem jeder dritte umgekommen ist, ist das auch
       76 Jahre danach noch ein wichtiger Tag. Aber das ist kein Festtag, sondern
       [1][ein Tag der Trauer und der Ehrerbietung gegenüber den wenigen noch
       lebenden Veteranen].
       
       Im vergangenen Jahr, auf dem Höhepunkt der ersten Welle der Coronapandemie,
       hatte Alexander Lukaschenko eine Parade im Zentrum der Stadt Minsk
       angeordnet. In keinen anderen Land wäre einem Staatsoberhaupt solch eine
       lächerliche Idee in den Kopf gekommen, aber unser Präsident hat in seiner
       Kindheit wohl nicht genug „Soldat“ gespielt. Diese Parade hatte eine
       rekordverdächtig niedrige Anzahl von Zuschauern, sogar russische Militärs
       sagten ihre Teilnahme ab.
       
       In diesem Jahr gab es keine Parade. Lukaschenko begnügte sich damit, einen
       Kranz niederzulegen, es gab Konzerte und ein Feuerwerk in den ideologisch
       „richtigen“ Farben: rot und grün. Ungeachtet des Umstandes, dass Ökologen
       sich dagegen ausgesprochen hatten während eines Konzerts 4.000 Ballons
       aufsteigen zu lassen, wurde das trotzdem durchgezogen. Ich hoffe sehr, dass
       die Vögel nicht allzu sehr gelitten haben und die Orte, an denen die
       Ballons niedergingen, nicht allzu sehr verschmutzt wurden: Denn der Staat
       macht keine Anstalten, diesen toxischen Müll vom Boden und aus dem Wasser
       zu entfernen.
       
       Das Gleiche gilt in diesem Jahr übrigens für finanzielle Hilfen an die
       Adresse der wenigen verbliebenen Veteranen. Anfangs hieß es im
       Arbeitsministerium noch, Einmalzahlungen seien nicht vorgesehen. Daraufhin
       startete [2][die Bürgerinitiative BYSOL] eine Sammung für die Veteranen. Am
       7. Mai äußerte sich Lukaschenko zu der Situation und versprach, dass alle
       Kriegsteilnehmer am Tag des Sieges eine einmalige Hilfszahlung erhalten
       würden. Er merkte an, dass zur Unterstützung der Veteranen die nicht gerade
       geringe Summe von umgerechnet 20 Millionen Euro ausgegeben würde.
       
       ## 3.337 Weltkriegsteilnehmer sind in Belarus noch am Leben
       
       In Belarus sind noch 3.337 Weltkriegsteilnehmer am Leben. Das sind 1.469
       weniger als im vergangenen Jahr. Kriegsinvaliden erhielten jeweils 487
       Euro, Gefangene in Konzentrationslagern 227 Euro. Man muss kein
       Mathematiker sein, um folgende Frage zu stellen: Wo ist das übrige Geld
       geblieben, Sascha? (Sascha ist die Verniedlichungsform von Alexander; wenn
       man denn in so einem Ton zu dem ehemaligen Präsidenten sprechen kann, dann
       erlaube ich mir das jetzt, Anm. d. Autorin).
       
       Vor Kurzem haben deutsche Rechtsanwälte im Namen von gefolterten Belarussen
       wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit beim Generalbundesanwalt
       Strafanzeige erstattet. „Im Großen und Ganzen können die Taten des Regimes
       nur als grausam bezeichnet werden“, so die Anwälte. Wissen Sie, wie
       Lukaschenko darauf reagiert hat? „Nicht die Erben des Faschismus werden
       mich richten. Wer seid Ihr eigentlich, um mich zu richten? Dafür, dass ich
       Euch schütze und auch mein Land?“
       
       Selbst wenn man vor diesen unzulässigen Äußerungen, mit denen der ehemalige
       Präsident in einer so groben Weise seine Unzufriedenheit ausdrückte, die
       Augen verschließt, sollte er jedoch an Folgendes erinnert werden: Dass sich
       Deutschland zu seinen Taten reumütig bekannt und den Opfern Entschädigung
       gezahlt hat. Daher hat dieses Land ein Recht, über Faschismus zu richten,
       der sein Haupt im Europa des 21. Jahrhunderts erhebt. Die Deutschen sind
       die direkten Nachkommen, das heißt erfahrene Richter, was Verbrechen gegen
       die Welt und die Menschheit angeht.
       
       Doch Lukaschenko ist als Historiker, obwohl er in diesem Fach ausgebildet
       ist, professionell genauso unbrauchbar wie als Präsident. Er erinnert sich
       an nichts und analysiert nichts. Was soll man auch von jemandem erwarten,
       der behauptet, sein Vater sei im Zweiten Weltkrieg gefallen? Er selbst
       wurde 1954 geboren. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass einige Arten
       von Säugetieren den Fortgang der Schwangerschaft und die Geburt auf einen,
       für das Überleben günstigeren, Zeitraum verschieben.
       
       Es scheint, dass Lukaschenko kein Mensch ist, sondern ein Känguruh oder ein
       Hirsch oder eine Robbe oder ein Nagetier. Aber vielleicht meint er nicht
       seinen biologischen, sondern seinen ideologischen Vater – Hitler, den er
       wiederholt bewundert hat. Das würde auch den „Genozid“ am belarussischen
       Volk erklären, der verwerflich und unnötig ist und dem Zerstörungswillen
       des belarussischen „Führers“ unterliegt.
       
       Vor einigen Jahren war ich in Nürnberg: Eine schöne Stadt, ein prächtiges
       Albrecht-Dürer-Museum, der wunderbare Schöne Brunnen am Hauptmarkt, die
       fabelhafte mittelalterliche Kaiserburg.
       
       Ich werde mit großer Freude dorthin zurückkehren, um meine professionellen
       Pflichten als Journalistin zu erfüllen. Und zwar an den Ort, wo ich noch
       nicht war – den Justizpalast. Das wird der Tag sein, an dem Lukaschenko
       dort der Prozess gemacht wird.
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel
       
       15 May 2021
       
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