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       # taz.de -- Neues Album von Tune-Yards: Der Klimawandel ist real
       
       > Das kalifornische Indieduo Tune-Yards hat sein neues Album „sketchy.“
       > veröffentlicht. Es ist ein polyrhythmisches Experiment in die
       > Selbstreflexion.
       
   IMG Bild: Merril Garbus und Neil Brenner können Kritik einstecken und sehen dabei gut aus
       
       Eine Leerstelle als Befreiungsschlag: Auf halber Strecke beim neuen Album
       „sketchy.“ des US-Artpop-Duos Tune-Yards warten mehr als eine Minute
       Stille, „silence pt. 2“ heißt der Track. Einen Vorschlag, wie
       Hörer*innen jene Schweigeminute nutzen sollen, findet sich gleich in
       Klammern dahinter.
       
       Neil Brenner und Merrill Garbus schlagen Selbstreflexion vor: Ihre Frage
       „Who is ‚we‘?“ wird mit dem vorherigen Song „silence pt. 1“
       kontextualisiert. Tune-Yards haben ihn mit „when we say ‚we‘ “ untertitelt.
       Hier gibt es keine Stille, sondern ungeduldig verstolperte Musik. Der
       Songtext erzählt von Verstrickungen im zwischenmenschlichen und
       gesellschaftlichen Bereich: „I am wrapped within you / I spread my roots
       into all your limbs“ singt Merril Garbus.
       
       „sketchy.“ trägt den auf diesem Album fast offensiv formulierten Mut zur
       Lücke schon im Titel: In Übersetzung bedeutet der Begriff „lückenhaft“ oder
       auch „grob umrissen“. Es ist das [1][fünfte Album] seit „Bird-Brains“
       (2009), dem überbordenden Globalpop-meets-Lo-Fi-Debüt der seinerzeit noch
       solierenden Garbus. Mehr als auf früheren Alben scheint es Tune-Yards
       diesmal darum zu gehen, Hörer*innen nicht mit einem Fazit in Gestalt von
       eingängigen Refrains zu konfrontieren, sondern die Fragen, an denen sie
       sich abarbeiten, in den öffentlichen Raum zurückzuspielen.
       
       Viele Künstler*innen versuchen auf Biegen und Brechen Popappeal zu
       kreieren, beim kalifornischen Duo ist es umgekehrt: Die [2][Musik von
       Tune-Yards] klingt, als spuckt sie sich gerne selbst in die Suppe, damit
       ihr verspulter Sound nicht allzu hitverdächtig klingt – zumindest nicht
       beim flüchtigen Hören. Schließlich muss man sich gut überlegen, so erklärte
       Garbus oft in Interviews, ob man Teil der Verwertungskette von Pop sein
       will. Spätestens mit dem zweiten Album „w h o k i l l“ (2011), mit dem
       Garbus die unbedarfte Homerecording-Verspieltheit ihres Debüts hinter sich
       ließ, wurde (Selbst)-Kritik für ihr Selbstverständnis zentral.
       
       ## Eigene Verstrickungen
       
       Auf dem Vorgängeralbum „I can feel you creep into my private life“ (2018)
       thematisierte sie dann die eigenen Verstrickungen: Wer spricht für was. Was
       haben Privilegien und kulturelle Aneignung, beides Minenfelder, mit dem
       eigenen Schaffen zu tun. Ein Grund für ihre Auseinandersetzung: Merrill
       Garbus war heftig dafür kritisiert worden, dass sie seit einem
       Austauschstudienjahr im kenianischen Nairobi in ihre eigene Musik
       Afrobeats einbaut.
       
       Während der Komposition ihres Albums „I can feel you creep into my private
       life“ nahm sie dann an einem sechsmonatigen Anti-Rassismus-Workshop teil.
       Mit gemischtem Ergebnis: Im Track „Colonizer“ kam sie arg pathoslastig zu
       dem Fazit „I smell the blood in my voice“. Auch auf musikalischer Ebene
       klang dieses Werk, als habe sie einiges von der Spielfreude ihrer früheren
       Songs eingebüßt.
       
       Nun ist Garbus’ Problem auch ein strukturelles Dilemma, schließlich lebt
       Pop von kultureller Aneignung, mehr noch als andere Kunstformen. Zugleich
       gibt es gerade auch in der Musikgeschichte viel aufzuarbeiten, nicht
       zuletzt im Hinblick darauf, wer von welcher Kultur ökonomisch profitiert.
       Wie auch immer Garbus das für den Moment für sich beantwortet hat: Auf dem
       neuen, deutlich energiegeladenen Tune-Yards-Album hat sie zumindest ihre
       Freude am polyrhythmischen Experiment wiedergefunden. Musikalisch schließt
       es an den charmanten Rumpelgroove ihrer Frühphase an.
       
       Diesmal legt Garbus das Prozesshafte ihrer Kompositionen offen – und lässt
       diametral zueinander stehende Konzepte aufeinanderprallen. [3][Der Song
       „Hold yourself now“] bringt tiefe Melancholie mit einer Ästhetik zusammen,
       die in seinem hymnischen Pathos an Stadionrock der 1980er erinnert. Es gibt
       keine Alternative, so das Fazit ihrer Texte: Sie muss sich davon
       freimachen, was ihr die Elterngeneration vermittelt hatte.
       
       ## Neuer Generationskonflikt
       
       Und will den Stab andererseits nicht weiterreichen. Auch der Konflikt, wie
       er sich etwa am Umgang mit der Klimakrise offenbart, schwingt hier mit.
       Garbus’ Fazit: „Child I won’t have you / I cannot have you / Child I won’t
       have you / and I’m telling you why / I cannot mend this / I have to end
       this / I can’t pretend / without a break inside.“ Aus dem Selbstbetrug, in
       dem sich Menschen in ihren jeweiligen Blasen einrichten, gibt es kein
       Entkommen.
       
       Auch am unterschiedlichen Umgang mit der Klimakrise ist ein
       Generationenkonflikt bemerkbar. Bei aller Traurigkeit, die in Musik und
       Texten von Tune-Yards steckt: Erfrischend ist, dass Garbus auf die
       Reproduktionsthematik in einer Weise blickt, die in den Diskussionen dieser
       Tage oft zu kurz kommt. Und dies erlaubt ihr zudem einen anderen Blick auf
       die gerne überstrapazierte Phrase von der Verantwortung gegenüber
       zukünftigen Generationen.
       
       23 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Stephanie Grimm
       
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