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       # taz.de -- Die Wahrheit: Die schweizerischste aller Schweizen
       
       > Das Gebilde zwischen Deutschland und Italien wäre vermutlich ein
       > gewaltiger Flächenstaat in der Mitte des Kontinents, wenn man es
       > glättete.
       
   IMG Bild: Peter Bichsel (1935-2025), hier bei „Schweizer Literaturtagen“ in Solothurn 2017
       
       Gegenstand der folgenden Zeilen ist die Schweiz. Wer sich nicht für die
       Schweiz interessiert, kann, sofern er dieses Blatt, wie es sich gehört,
       lesepraktisch von hinten aufrollt, gern sofort damit anfangen, ohne die
       Hürde dieser Zeilen über die Schweiz nehmen zu müssen. Wobei die Schweiz
       selbst wie ein zerklüftetes und gewundenes Hindernis in der Landschaft
       liegt, sobald man von Deutschland nach Italien will.
       
       Zugegeben. Es wäre, wollte man es darauf anlegen und die Schweiz partout
       vermeiden, wofür es gute Gründe gibt, auch eine Zangenbewegung um die
       Schweiz herum nach Italien hinein denkbar, etwa über Frankreich oder
       Slowenien nach Italien hinein – wobei letztere Strecke über Österreich
       führt, und das ist nicht Gegenstand dieser Zeilen. Die Schweiz also.
       Einfach, weil sie da ist.
       
       Was vielleicht ein schönerer Slogan wäre als das einsilbige „Rock!“,
       „Fun!“, „Tell!“, wie es von touristischen Plakaten entlang der Autobahnen
       bellt – je nachdem, ob die Landschaft felsig ist, fröhlich oder historisch.
       Es gibt auch gar keine Landschaft. Beispielsweise bei Basel, durch das der
       Reisende sanft auf betonierten Stelzen gelenkt wird, um aus erhöhter Warte
       einen Blick auf die chemieindustriellen Verheerungen dort werfen zu dürfen.
       Hier ist es, als wollte die Schweiz den nördlichen Nachbarn bedeuten: „Seht
       her, auch ich kann Ruhrpott!“
       
       Der Stelzen, Tunnels und erhöhten Warten ist dann im Folgenden, wenn die
       Landschaft beginnt, kein Ende mehr. Die Schweiz ist sehr gut darin,
       Besucher abführmittelgleich durch sich hindurchzuleiten. Es sei denn, die
       suchen nach „Rock!“ oder „Fun!“. Hin und wieder bimmelt eine Kuhglocke:
       „Cow!“
       
       Topografisch ist die Schweiz von irritierender Zerknüllung. Könnte man sie
       glattstreichen wie Papier, wäre sie vermutlich ein gewaltiger Flächenstaat
       in der Mitte des Kontinents, bevölkert von glücklichen Menschen in schönen
       Maseratis. Sogar die Bauarbeiter sehen aus, als wären sie Akademiker, als
       könnte man sich bei Stau aus dem Fenster beugen und ihren Gesprächen über
       Peter Bichsel lauschen.
       
       Lauschen kann man auch der kehligen Fröhlichkeit und babylonischen
       Sprachverwirrung, mit der im Radio die Schweiz ihre moralische
       Verkommenheit bedenkt. Ihre „großen Staatsbanken“ scheitern im
       internationalen Finanzgeschäft, ihren Asylsachbearbeiterinnen werden „von
       anonym“ die Bremskabel an ihren Maseratis durchgeschnitten. Und Lausanne
       impft nun schon 18-Jährige. Wir erkunden hier ein fremdes Land, das in
       krassem Gegensatz zu Deutschland steht.
       
       Unter dem Granit des Gotthard lässt der terrestrische Empfang zu wünschen
       übrig, auf der südlichen Seite wartet mit seinen Palmen der Lago Maggiore.
       Warum nicht gleich so? Gleich hinter Weil am Rhein? Weil Afrika einst gegen
       Europa gestoßen ist und damit allerlei Unheil angerichtet hat. Einfach,
       weil sie da ist.
       
       29 Apr 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Arno Frank
       
       ## TAGS
       
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