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       # taz.de -- Aktivistin über Tote im Mittelmeer: „Das war kein Bootsunglück“
       
       > Lara Dade von Alarmphone war in Kontakt mit 130 vor Libyen ertrunkenen
       > Flüchtlingen. Obwohl EU und Küstenwachen informiert waren, halfen sie
       > nicht.
       
   IMG Bild: Obwohl die EU und Libyen von dem 130 Menschen in Seenot wussten, kamen sie nicht zur Hilfe
       
       taz: Frau Dade, was ist Alarmphone und warum ist es wichtig? 
       
       Lara Dade: Alarmphone ist eine 24-Stunden-Hotline für Menschen, die im
       Mittelmeer in Seenot geraten. Wir haben uns 2014 gegründet und sind damit
       seit mittlerweile sechseinhalb Jahren für Flüchtende erreichbar. Es ist ein
       transnationales Netzwerk mit Gruppen in vielen Ländern nördlich und südlich
       des Mittelmeers. Wir organisieren die Hilfe im Schichtsystem, und schlagen
       bei Anrufen Alarm, versuchen NGO-Schiffe einzubeziehen und öffentlichen
       Druck aufzubauen, damit Menschen in Seenot gerettet werden. Außerdem
       dokumentieren wir Menschenrechtsverletzungen und tragen sie über soziale
       Medien in die Öffentlichkeit. Mit unserem Aktivismus wollen wir uns gegen
       das tödliche Grenzregime der EU stellen und Menschen in Seenot
       unterstützen.
       
       Sie demonstrieren am Donnerstagabend um 18:30 Uhr am Oranienplatz in
       Berlin-Kreuzberg, weil vor einer Woche 130 Menschen im Mittelmeer vor
       Libyen ertrunken sind. Auch über diesen Fall haben Sie berichtet. Was ist
       genau geschehen? 
       
       Das ist ein Fall von sehr vielen, aber wir haben diesen sehr [1][konkret in
       einem Report dokumentiert], weil wir schon seit dem Mittwochmorgen am 21.
       April mit den Menschen auf dem Boot in Kontakt standen. Wir haben sofort
       alle Küstenwachen alarmiert und es hat trotzdem keiner reagiert.
       
       Wie lief das konkret ab? 
       
       Ich hatte Schicht am Telefon und habe mehrfach mit den Menschen auf dem
       Boot gesprochen: Sie waren in Panik, weil sich das Wetter verschlechterte.
       Sie sprachen davon, in einem überfüllten Schlauchboot zu sein, von hohen
       Wellen und davon, dass Wasser im Boot sei. Nach ihren Angaben waren etwa
       130 Menschen an Bord, darunter 7 Frauen, eine davon schwanger. Wir haben
       der italienischen und der libyschen Küstenwache immer wieder die GPS-Daten
       durchgegeben. Aber keiner hat sie gerettet.
       
       Waren keine Hilfsorganisationen in der Nähe? 
       
       Nein. Das Rettungsboot Ocean Viking von SOS Mediterranee war nicht in der
       Nähe, weil es bei einen anderen Rettungseinsatz war. Wir hatten zuletzt am
       Mittwochabend um 20:15 Uhr Kontakt zu den Menschen auf dem Schlauchboot.
       Schon davor hatten sie gesagt, dass der Akku vom Satellitentelefon schwach
       sei. In der Nacht zum 22. April sind sie vor der libyschen Küste ertrunken.
       Die Ocean Viking traf erst am nächsten Morgen dort ein und fand das
       gekenterte Schlauchboot und leblose Menschen. In der Tagesschau war [2][die
       Rede von einem Bootsunglück]. Aber das war kein Bootsunglück. Es war ein
       bewusstes sterben lassen, weil niemand rausgefahren ist, um diese Menschen
       zu retten. Das ist alles wissentlich passiert.
       
       Wer wusste alles davon, dass das Boot in Seenot war? 
       
       Wir haben die Küstenwachen von Italien, Libyen und Malta alarmiert. Ebenso
       Frontex, die sogar am Abend den Menschen noch Hoffnung machten, weil sie
       mit einem Flugzeug über dem Boot kreisten. Aber es kam niemand zur Hilfe.
       
       Wie läuft der Kontakt zu den Küstenwachen in solchen Situationen? 
       
       Wir dokumentieren alles in einem Logbuch: Ich habe acht Stunden lang
       versucht, die verschiedenen Stellen zu kontaktieren. Man hängt dann lange
       in der Warteschleifen und schreibt Emails an die verschiedenen Küstenwachen
       und Frontex. Die libysche Küstenwache war am Mittwoch über Stunden
       überhaupt nicht zu erreichen und dann hieß es irgendwann „wir checken die
       Emails“. Die Italiener haben gesagt, wir sollen die „competent authorities“
       kontaktieren. Das wäre die libysche Küstenwache, die aber nicht ran ging
       und am Abend sogar noch gesagt hat, dass das Wetter zu schlecht sei, um
       rauszufahren. Wir haben immer wieder angerufen mit neuen Informationen und
       den Standort vom Boot in Seenot durchgegeben.
       
       Wie war diese schreckliche Schicht für Sie persönlich? 
       
       Es war zum Verzweifeln. Wenn die Mittel, die wir haben ausgeschöpft sind,
       und die Autoritäten trotzdem nicht handeln, fühlt man sich ohnmächtig. Und
       da ist auch viel Wut – auf das strukturelle Inkaufnehmen von Toten im
       Mittelmeer. Vor allem ist es total beschissen, dass man so wenig
       Handlungsspielraum hat. Man versucht, die Leute auf dem Boot zu beruhigen
       und sagt Ihnen, was sie gegen das Wasser im Boot machen können. Aber es ist
       natürlich schwierig, wenn man nichts in Aussicht stellen kann und niemand
       zur Rettung kommt. Mich wurmt am meisten, dass es nicht so sein müsste.
       Aber die Wut motiviert mich auch, weiter zu machen.
       
       Warum passiert so etwas immer wieder und seit Jahren? 
       
       Es liegt am grundsätzlich rassistischen Grenzregime der EU, die ihre
       Außengrenzen so schützt, dass Menschenleben nichts zählen. Dass Leute sich
       überhaupt in Boote setzen müssen und dann wissentlich sich selbst
       überlassen werden und so letztlich getötet werden. Es gibt permanent solche
       Fälle im Mittelmeer, wenn keine NGO-Boote in der Nähe sind. Es gibt
       Pushbacks in der Ägäis, wo Schlauchboote angegriffen, zurückgedrängt oder
       -gezogen werden, Ähnliches passiert auch im westlichen Mittelmeer. Überall
       im Mittelmeer gibt es Menschenrechtsverletzungen. Wir haben viele dieser
       [3][gewaltsamen Pushbacks auf einer Website] dokumentiert.
       
       Wie kann man Alarmphone von Berlin aus unterstützen? 
       
       Man kann zu unserer Kundgebung am Donnerstagabend kommen, um an die Opfer
       zu erinnern und zu gedenken und Wut und Trauer auf die Straße zu tragen.
       Man kann in lokalen Gruppen aktiv werden. Ebenso kann man sich informieren,
       das Thema ansprechen und Informationen verbreiten: Es ist kein Seeunglück,
       wenn man Menschen in Seenot sich selbst überlässt. Aber wir brauchen
       natürlich auch Spenden.
       
       28 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://alarmphone.org/en/2021/04/22/coordinating-a-maritime-disaster-up-to-130-people-drown-off-libya/?post_type_release_type=post
   DIR [2] https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/fluechtlinge-libyen-bootsunglueck-103.html
   DIR [3] https://aeg.bordercrimes.net/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gareth Joswig
       
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