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       # taz.de -- Tod von Menschen mit Behinderung: Ableistische Gewalttat
       
       > Eine Mitarbeiterin eines Wohnheims in Potsdam soll vier Menschen mit
       > Behinderung getötet haben. Betroffene äußern Kritik an der
       > Berichterstattung.
       
   IMG Bild: Polizist*innen suchen nach Spuren am Oberlin in Potsdam. Kritiker*innen meinen, das reicht nicht
       
       Potsdam taz | Nach dem [1][gewaltsamen Tod von vier Menschen mit
       Behinderung] am Mittwoch in einem Potsdamer Wohnheim haben viele Menschen
       in den sozialen Netzwerken ihre Anteilnahme mit den Angehörigen der Opfer
       bekundet. Ermittler*innen klären nun den genauen Tathergang. Das
       Amtsgericht Potsdam hatte eine Pflege-Mitarbeiterin des Wohnheims, die
       unter dringendem Tatverdacht steht, in ein psychiatrisches Krankenhaus in
       Brandenburg/Havel eingewiesen.
       
       Während die Trauer über die entsetzliche Tat vorherrscht, äußern viele
       Menschen auch starke Kritik an der Berichterstattung über die Tat und
       fordern die Politik auf zu handeln und Gewalt in der Pflege zu
       thematisieren. Menschen mit Behinderungen seien täglich strukturellem
       Ableismus ausgesetzt.
       
       ## „Handeln statt Blumensträuße!“
       
       Alexander Ahrens, Geschäftsführer der Interessenvertretung „Selbstbestimmt
       Leben in Deutschland e.V. (ISL)“ fordert [2][in einer Pressemitteilung] den
       „umfassende Gewaltschutz in den Einrichtungen“, der eigentlich durch
       [3][das Teilhabegesetz] verbessert werden sollte. „Statt
       Beileidsbekundungen und Blumensträuße braucht es endlich entschlossenes
       politisches Handeln und Konsequenzen“, so Ahrens. Nicht nur in der
       Berichterstattung fehle „das Thematisieren von strukturellem und
       institutionellem Ableismus, Behindertenfeindlichkeit und Gewalt in
       derartigen Einrichtungen“, heißt es weiter.
       
       Ähnlich äußern sich andere Autor*innen und
       Disability-Studies-Expert*innen. „Fassungslos, welche Fragen in der rbb
       abendschau Spezial NICHT gestellt wurden. Wie steht es um Gewalt in Heimen
       generell? Wie sind die Arbeitsbedingungen im Oberlinhaus? Stattdessen: Ein
       Werbefilm für's Oberlinhaus und danach „Ziemlich beste Freunde“, schreibt
       die freie Journalist*in und Fachautorin der Disability Studies
       [4][Rebecca Maskos] auf Twitter.
       
       Statt über die Opfer zu sprechen, wurde in der Abendschau über die
       Überforderung des Pflegepersonals gesprochen sowie ein Polizeipsychologe
       interviewt, der davon spricht, dass eine Motivation der Beschuldigten
       gewesen sein könnte „die Leute zu erlösen von Leiden, die vielleicht sogar
       unheilbar sind.“ Viele Menschen mit Behinderung und Aktivist*innen
       kritisierten die Aussage des Psychologen. „Das Einnehmen der
       Täter*innen-Perspektive entwertet das Leben derjenigen Menschen, die von
       der Gesellschaft behindert werden – in diesen Einrichtungen“, schreibt auch
       Ahrens.
       
       Auch die [5][Autorin Laura Gehlhaar] äußert Kritik an den verwendeten
       Begriffen in der Berichterstattung: „Medien & Politik, hört auf von den
       „besonders Schutzlosen“ oder „Schwächsten“ zu sprechen. Das ist #othering
       und #ableismus in seiner Höchstform! Ihr macht eine Spaltung in IHR und WIR
       auf. Hört auf damit!“
       
       ## Gewalt in der Pflege ist Tabuthema
       
       Die öffentliche Kritik nach der schlimmen Tat in Potsdam greift auch auf,
       dass Gewalt in der Pflege immer noch als Tabuthema behandelt wird.
       „Tagtäglich erfahren behinderte und pflegebedürftige Menschen in derartigen
       Abhängigkeitsverhältnissen Gewalt in ihrer unterschiedlichsten Form“,
       schreibt die ISL. Diese Gewalt werde weder groß wahrgenommen noch häufig
       ernst genommen, da „vieles ganz selbstverständlich unter dem Deckmantel der
       Fürsorglichkeit und Nächstenliebe stattfindet“.
       
       Die Deutsche Stiftung Patientenschutz fordert, Gewalt in der Pflege in
       Einrichtungen offen anzusprechen. „Wir brauchen auch in dieser Frage keine
       Tabuisierung, sondern eine Kultur des miteinander Redens und eine Kultur
       des Hinschauens“, sagte Vorstand Eugen Brysch.
       
       ## Berichterstattung seit vielen Jahren stereotyp
       
       Dass die Berichterstattung über Menschen mit Behinderung in vielen Fällen
       paternalistisch ist, kritisieren Expert*innen schon seit Jahren. Oft
       erschienen Texte ohne Stimmen von Betroffenen. Stattdessen würden Menschen
       mit Behinderungen fremd charakterisiert. [6][Raul Krauthausen] befand in
       seiner Diplomarbeit mit dem Titel „Zwischen Sorgenkind und Superkrüppel“
       schon 2010, dass entweder über Menschen mit Behinderung berichtet werde,
       als wären sie Superheld*innen, oder es wird eine „leidvolle Geschichte
       erzählt, wo gesagt wird, jemand „meistert tapfer sein Schicksal“, macht
       „trotz der Behinderung“ etwas“, so Krauthausen.
       
       Dass die Berichterstattung auch aktuell noch häufig stereotyp und
       diskriminierend ist, bemängeln die Disabililty Studies und viele
       Aktivist*innen [7][regelmäßig]. Diese befeuere Berührungsängste
       zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, statt sie abzubauen, so die
       Kritik. Auch nach der schrecklichen Nachricht aus dem Potsdamer Wohnheim
       hätten viele der Beileidsbekundungen von Politiker*innen und anderen
       Wörter wie „die Schutzbedürftigsten“ und „die Schwächsten“ verwendet. Das
       mache abermals ein „Die und Wir“ auf, [8][kritisiert die Journalistin und
       Autorin Christiane Link].
       
       Die geeignetste Möglichkeit, wie Redaktionen einen sensibleren Themenumgang
       in Bezug auf Menschen mit Behinderung bekommen können und sie als
       selbstverständliche Interviewpartner*innen für vielfältige Themen
       einbeziehen und Klischees in ihren Artikeln verringern könnten, ist, den
       Zugang für Menschen mit Behinderung in den Journalismus zu erleichtern.
       Doch bereits in der Ausbildung gibt es Probleme. Etwa ist an
       Journalist*innenschulen das Lernmaterial bislang nicht barrierefrei,
       Menschen mit Behinderung werden dort bislang kaum ausgebildet.
       
       30 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Vier-Tote-in-Potsdamer-Wohnstaette/!5769130
   DIR [2] https://www.isl-ev.de/attachments/article/2540/PM%20T%C3%B6tung%20von%20behinderten%20Menschen%20im%20Wohnheim%20-%20Handeln%20statt%20Blumenstr%C3%A4u%C3%9Fe.pdf
   DIR [3] /Berliner-Teilhabegesetz/!5606602
   DIR [4] https://twitter.com/rmaskos?lang=de
   DIR [5] https://twitter.com/LauraGehlhaar
   DIR [6] /Raul-Krauthausen-ueber-Mediennarrative/!5692940
   DIR [7] /Behinderte-Menschen-in-den-Medien/!5348911
   DIR [8] https://twitter.com/Christiane
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Linda Gerner
       
       ## TAGS
       
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