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       # taz.de -- Lockdown, Literatur und Charakterzüge: Genie und Verbrechen
       
       > Manche*n Künstler*in möchte man gar nicht so genau kennenlernen.
       > Wenn das Werk großartig ist, der Menschen dahinter aber Schattenseiten
       > hat.
       
   IMG Bild: Egal was Faucault vorgeworfen wird, seine Machttheorie ist deshalb ja nicht plötzlich falsch
       
       Wir sitzen jetzt seit 15 Monaten unsere Zeit ab – und schon dieses „wir“
       ist ein sehr fragwürdiges. Aber die meisten von uns hatten wenigstens leere
       Abende, und es ist ganz okay, wenn Sie diese Zeit nicht zur
       [1][Selbstoptimierung] genützt haben. Wir machen uns doch sowieso genug
       Druck.
       
       Ich selbst habe versucht, die Zeit zu nutzen, um ein paar Bildungslücken zu
       schließen, mich ein bisschen der Literatur von Spätromantik bis klassischer
       Moderne zu widmen, habe mal wieder Heinrich Heines Gesamtwerk durchgepaukt,
       Honoré de Balzac, Charles Baudelaire, Gustave Flaubert, André Gide und
       einiges mehr gelesen.
       
       Gräbt man sich durch diese Epochen, dann kann man gut und gern ein Jahr
       verbringen, in dem man nur Texte von reichen weißen Männern liest. Im 19.
       Jahrhundert spielten Frauen die zweite Geige, ja im Allgemeinen waren sie
       chancenlos. Meist kreisten Frauen eher an der Peripherie der Szene, doch
       nur wenige schafften es (wie etwa George Sand), selbst ein Zentralgestirn
       der Kulturgeschichte zu werden.
       
       In Kunst oder Theorie zu Ruhm zu gelangen setzte aber meist auch voraus,
       aus wohlhabendem Haus zu kommen. Von Karl Marx bis Friedrich Engels, von
       Karl Kraus bis zur gesamten Frankfurter Schule, von Friedrich Pollock über
       Max Horkheimer bis Theodor W. Adorno, niemand von denen hätte seine
       herausragenden kulturellen Leistungen erbringen können, wäre er nicht
       ökonomisch von daheim oder durch Gönner abgesichert gewesen.
       
       ## Kultureller Kanon von Rich Boys
       
       Es gibt ein paar vereinzelte Ausnahmen, aber unser kultureller Kanon bis
       weit ins 20. Jahrhundert wurde von Rich Boys verfertigt. Die Genialität der
       Genannten wird durch diese Feststellung nicht getrübt. Aber wer diese
       Absicherung nicht hatte, der konnte nichts werden. Werk und Biografie
       lassen sich insofern nicht trennen.
       
       Apropos Werk und Person: Liest oder unterrichtet man heute das Œuvre etwa
       von Michel Foucault, muss man sich neuerdings dafür rechtfertigen, gab es
       zuletzt doch Vorwürfe, der französische Theoretiker habe sich seinerzeit in
       Tunesien an kleinen Jungen vergangen, angeblich gegen Geld. Der Vorwurf
       steht jedenfalls im Raum, ist allerdings keineswegs erwiesen, anders als
       bei André Gide, dessen Neigung zu minderjährigen Burschen ziemlich
       zweifelsfrei feststehen dürfte.
       
       Nun kann man daran vielerlei Überlegungen anstellen, ob der Status eines
       Kunstwerkes – wie die Romane Gides – durch Verfehlungen oder charakterliche
       Fragwürdigkeiten eines Künstlers berührt ist. Noch einmal anders ist das
       bei sozialwissenschaftlichen Entdeckungen eines Theoretikers wie Foucault.
       Horche ich in mich hinein, dann habe ich die Entdeckungen Foucaults stets
       relativ von der Person abgetrennt. Soll heißen: Ich habe sie eher wie
       Mathematikbücher gelesen. Über Techniken zur Selbstoptimierung oder über
       das Funktionieren von Machtstrukturen kann man heute nicht mehr sprechen,
       ohne die bahnbrechenden Überlegungen Foucaults zu würdigen, aber deswegen
       muss ich ja die Person des Wissenschaftlers nicht verehren.
       
       Persönlich war mir Foucault als Person immer mehr wurscht als etwa Marx,
       aber gut, der war ja auch nicht gerade ein Heiliger.
       
       Interessant ist dabei, dass wir intuitiv Forscher*innen am Feld der
       Sozialwissenschaften, bei denen es ja immer auch um Menschenbilder und
       damit im weitesten Sinne um Fragen der Moral geht, anders beurteilen als
       etwa Naturwissenschaftler*innen. Die Schwerkraft wäre einfach ein
       physikalischer Fakt, selbst wenn jener, der sie entdeckt hatte, ein ganz
       schlimmer Finger gewesen wäre.
       
       Im Feld der sozialwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen
       Forschung können wir offensichtlich Person und Werk weniger voneinander
       trennen, wobei nicht recht erklärbar ist, warum eigentlich. Foucaults
       Machttheorie wäre ja nicht plötzlich falsch, wenn jener, der sie
       entwickelte, ein fragwürdiger Charakter gewesen wäre.
       
       ## Lebendig erheblich unerfreulicher
       
       All das sind komplexe Fragen, die gar nicht so leicht beantwortbar sind,
       bedenkt man hinzu, dass wir hier ja nur über tote Forscher und Künstler
       (gendern muss ich hier nicht) sprechen, deren Werk vollendet vorliegt.
       Erheblich unerfreulicher stellt sich die Sache dar, wenn lebende
       Künstler*innen in Skandale verwickelt sind, die mit Machtmissbrauch und
       Ähnlichem zu tun haben.
       
       Niemand würde dann mit dem Ratschlag kommen, sie einfach mit ihrem
       Verhalten fortfahren zu lassen, da doch Person und Werk voneinander
       getrennt werden müssen, wenngleich ebenso das Argument nicht von der Hand
       zu weisen ist, dass große Künstler nicht unbedingt gute Menschen sein
       müssen. Aber der Geniekult kann auch kein Alibi dafür sein, schlechte
       Charakterzüge auszuleben.
       
       Sie sehen schon, ich habe keine Antworten, sondern nur Fragen, und sie
       werden nicht unbedingt einfacher, je mehr man über sie nachdenkt.
       
       22 May 2021
       
       ## LINKS
       
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