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       # taz.de -- Perspektiven für den Nahost-Konflikt: Die Hoffnung der Narren
       
       > Im Nahen Osten ist trotz des Waffenstillstands kein echter Frieden in
       > Sicht. Initiativen, die für das Zusammenleben einstehen, fegen nun die
       > Scherben zusammen.
       
   IMG Bild: Wie gelingt er, der Frieden im Nahen Osten?
       
       Dies sind düstere Tage – daran ändert der fragile Waffenstillstand von
       Freitag kaum etwas. Als die ersten Bilder von randalierenden Juden und
       Arabern über den Bildschirm flimmerten, ließ mich das an Zeilen des
       Dichters Nathan Alterman denken: „Die Stadt verdunkelt sich. Kein Mann weiß
       mehr, was ein Volk ist. Kein Volk weiß mehr, was ein Mann und was eine Frau
       ist.“
       
       In diesen Tagen verdunkelt sich das ganze Land. Hier und dort tauchen irre
       Gesichter aus der Dunkelheit auf, blutdürstig, wie in bei einem Pogrom oder
       in dem Thriller „The purge“ („Die Säuberung“). Die Barbaren stehen nicht am
       Stadttor – sie sind hier, in den Straßen und auf den Plätzen, jüdische
       Barbaren und arabische Barbaren.
       
       Gerade in Zeiten wie diesen gilt es in einigen Punkten so genau wie möglich
       zu sein:
       
       1. Das jüdische Volk hat ein Recht auf ein sicheres Leben in Frieden und
       dem Gefühl, zu Hause zu sein. Dasselbe gilt für das palästinensische Volk.
       
       2. Seit 1948 und vielleicht länger haben die Palästinenser unter
       anhaltender Ungerechtigkeit gelitten. Dieses Unrecht kann nicht mit so
       banalen Feststellungen, wie: „Sie haben den Krieg angefangen“,
       gerechtfertigt werden.
       
       3. Seit Jahrzehnten verstärken sich in der israelischen Gesellschaft
       religiös-nationalistische Ströme und damit Tendenzen hin zum Separatismus,
       zum Rassismus und zu dem Gefühl, die ganze Welt sei gegen uns; dem Gefühl,
       dass wir die Auserwählten sind und die, die recht haben. Die Rede ist von
       jungen Leuten, die ein vereinfachtes Realitätsbild haben.
       
       Sie leben in einer Demokratie oder zumindest in einer demokratieähnlichen
       Struktur, haben jedoch eine autoritäre, oft rassistische Mentalität. Sie
       sind es, die heute durch die Straßen ziehen und „Tod den Arabern“ rufen.
       Rechte Politiker und religiöse Parteien, die seit 1977 nahezu
       ununterbrochen Teil aller Regierungskoalitionen sind, hetzen den Pöbel
       zusätzlich auf.
       
       4. In der palästinensischen Gesellschaft waren über die Jahre wiederholt
       moderate Stimmen zu hören, die eine pragmatische Lösung befürworteten.
       Diese Stimmen konnten sich jedoch nicht gegen andere, radikale Stimmen
       durchsetzen, die „alles oder nichts“ verfolgten. Die Extremisten haben die
       erste und die zweite Intifada vorangetrieben. Organisationen wie die Fatah,
       die Volksfront zur Befreiung Palästinas und andere waren weltliche
       Bewegungen, die nationalistische Ziele verfolgten.
       
       ## Kampf um religiöse Symbole
       
       Mit dem Aufkommen der Hamas und anderen extrem religiösen Bewegungen in der
       arabischen Welt hat sich das Bild komplett gewandelt. In dem Moment, in dem
       sich die Hamas die Macht im Gazastreifen erkämpfte, verwandelte sie ihn in
       einen einzigen großen Bunker, inklusive einer unterirdischen Stadt und
       unterirdischen Rüstungslagern.
       
       Man muss sich eines vergegenwärtigen: Israel ist aus Gaza abgezogen, aber
       die Hamas denkt noch immer in Begriffen wie „Widerstand“. Gegen wen genau?
       Wenn man sich die Rhetorik der palästinensischen Islamisten anhört, ist
       völlig klar, dass sie den gesamten Gazastreifen mitsamt seiner Bevölkerung,
       die sie als Geiseln hält, zum Kampf um religiöse Symbole wie die
       Al-Aksa-Moschee antreibt und zum Kampf um Souveränität.
       
       Souveränität worüber? Souveränität über den Gazastreifen haben sie doch
       längst. Das Westjordanland? Nein, die Islamisten zielen offen auf die
       Rückkehr nach Haifa und Jaffa. Mit anderen Worten: Solange der Staat Israel
       nicht von der Landkarte verschwindet, wird die Hamas den Kampf fortsetzen.
       In der Zwischenzeit ist Gaza arbeitslos, vom Rest der Welt abgeschnitten,
       hungrig.
       
       Auch hier lohnt es sich, genauer hinzusehen: Die Blockade, unter der der
       Gazastreifen steht, ist Israel nur teilweise zuzuschreiben. Im Süden hält
       Ägypten die Grenze weitgehend geschlossen. Aber darüber redet niemand. So
       lebt der Gazastreifen von ausländischen Hilfsgeldern. Vor allem aus Katar
       fließen die Dollars in den belagerten palästinensischen Küstenstreifen.
       Wohin genau geht das Geld? In die Entwicklung der maroden Wirtschaft
       vielleicht? Nein. Es fließt in den Bau geheimer Tunnel, durch die man
       Terroristen nach Israel einschleusen will, es fließt in
       Raketenabschussbasen und Sprengstoff.
       
       ## Hamas will keine Integration
       
       5. Die Palästinenser in Israel sind Opfer andauernder Diskriminierung.
       Allerdings gibt es seit geraumer Zeit Tendenzen junger Araber, sich in die
       Gesellschaft, im Arbeitsmarkt und an den Hochschulen zu integrieren. Die
       Hamas wie auch Untergruppen der islamischen Bewegung in Galiläa, in
       Jerusalem und im Negev lehnen derartige Entwicklungen strikt ab. Wenn die
       israelische Polizei in die Al-Aksa-Moschee eindringt, ist das für die Hamas
       ein politisches Kampfmittel, denn es ermöglicht den Islamisten, mithilfe
       religiöser Empfindlichkeiten den Konflikt anzuheizen.
       
       6. Wer in diesem Kessel rührt, sind die sozialen Netzwerke. Die Tendenz
       geht hier überwiegend dahin, die höchst komplexe Lage vereinfacht,
       manipulierend und propagandistisch darzustellen. Daran schließt sich die
       Berichterstattung im Fernsehen an. In den israelischen Sendern wird die
       Geschichte zuallererst aus israelischer Perspektive geschildert. Gerade
       jetzt werden „patriotische“ Stimmen lauter, die sich weigern, der anderen
       Seite Raum zu lassen. Trotzdem werden auch Palästinenser und oppositionelle
       Politiker in die Studios eingeladen, sodass das Bild zumindest etwas
       ausgewogen ist.
       
       Im Gegensatz dazu bleibt die Berichterstattung in Kanälen wie Al-Jazeera
       komplett einseitig. Al-Jazeera steht inklusive all seiner Reporter unter
       den Fittichen der Hamas. Hier geht es nicht um die palästinensische
       Version, sondern um die Narrative der Hamas. Wer die Berichterstattung
       dieses Kanals verfolgt, muss den Eindruck bekommen, dass Israel gezielt auf
       Zivilisten schießt. Angriffe auf militärische Ziele erwähnt Al-Jazeera mit
       keinem Wort.
       
       Selbst wenn die Berichte der Reporter, die Israel als erbarmungslos und
       völlig boshaft darstellen, der Wahrheit entsprächen, würde es doch keinen
       Sinn ergeben, dass die israelische Armee nur auf Zivilisten schießt. Wozu
       genau sollte das gut sein?
       
       Bei Al-Jazeera ist die Rede von einem „Zerstörungskrieg“. Hätte Israel das
       Ziel, den Gazastreifen zu zerstören, dann läge die Zahl der Toten heute
       nicht zwischen 200 bis 300, sondern bei mehreren Hunderttausend. Die
       Wahrheit ist natürlich eine andere. Israel zielt auf militärische
       Einrichtungen und Kämpfer, die jedoch mitten in der Zivilbevölkerung
       versteckt sind. Deshalb tragen auch Zivilisten den Schaden, was furchtbar
       tragisch ist und kaum auszuhalten. Die Frage ist, wie weit es moralisch
       verantwortlich ist, militärische Ziele inmitten der zivilen Bevölkerung
       anzugreifen.
       
       7. Nicht wenige Analysten sind der Überzeugung, dass Israels Regierungschef
       Benjamin Netanjahu und der Minister für Innere Sicherheit Amir Ohana die
       Lage für sich missbrauchen, um die Koalitionsbildung des oppositionellen
       Lagers unter der Führung des rechtsliberalen Jair Lapid zu verhindern. Der
       Gedanke, die beiden Politiker hätten all das so genau geplant, scheint doch
       ein wenig weit hergeholt. Dennoch gibt es bis heute keine Antwort auf die
       Frage, warum die israelische Polizei in die Al-Aksa-Moschee eingedrungen
       ist.
       
       Vorläufig versuchen Netanjahu und Ohana die Krise so darzustellen, dass die
       Unruhen zuallererst von arabischer Seite ausgingen und unterdrückt werden
       mussten. Das ist sicher eine Lüge. Schon wird hier der Boden für die
       nächste Eskalation bereitet. Der Eindruck entsteht, dass Netanjahu den
       Konflikt mit der Hamas zu einer endlosen Abfolge von Schlagabtausch-Runden
       machen will, dass er die Hamas Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas, den
       er politisch schwächt, vorzieht, weil er nicht an einer Lösung interessiert
       ist, sondern in Wahrheit an der Fortsetzung des Konflikts.
       
       Netanjahu braucht den Feind, um sich selbst als starke Führungsperson zu
       inszenieren. Zudem würde ihm eine echte Friedenslösung schwere
       Zugeständnisse abfordern.
       
       ## Die Scherben müssen zusammengefegt werden
       
       Die Lage ist komplex. Und schlecht – sehr schlecht. Es ist keine Geschichte
       von Gerechten. Israel ist schuld an der Not und der andauernden
       Diskriminierung der Palästinenser und verschärft damit Tendenzen zu
       nationaler und religiöser Radikalisierung. Wenn die Bundesregierung daran
       festhält, [1][Israel um jeden Preis zu verteidigen], dann sollten sich die
       Deutschen darüber klar sein, von welchem Israel die Rede ist: einer
       überwiegend rechten Gesellschaft, die in weiten Teilen religiös, militant
       und oft rassistisch ist. Noch gibt es liberale, pluralistische Kräfte, aber
       sie werden weniger.
       
       Das heutige Israel gehört zum großen Teil den jungen Leuten, die auf die
       Straßen zogen, um Araber zu töten; es gehört religiösen Gruppen, die sich
       in gemischten jüdisch-arabischen Städten breitmachen und Überlegenheit
       demonstrieren. Die ersten Unruhen, die von arabischer Seite ausgingen,
       richteten sich genau gegen diese Gruppen.
       
       Die Palästinenser ihrerseits haben völlig recht, wenn sie gleiche Rechte
       und Selbstbestimmung fordern. Doch von dem Moment an, wo ihr Narrativ
       religiös-extremistisch wird, von dem Moment an, wo sie Kompromisse
       ablehnen, von dem Moment an, wo sie losziehen, um Synagogen in Brand zu
       stecken oder jüdische Passanten zu lynchen, ist ihr Kampf nicht mehr zu
       rechtfertigen.
       
       Was bleibt, ist, die Scherben zusammenzufegen. Schon jetzt entstehen
       zahlreiche Initiativen, die für das Zusammenleben und die friedliche
       Koexistenz einstehen. Ob sich diese Kräfte gegen das Inferno durchsetzen,
       das sich in den vergangenen Tagen wie ein Lauffeuer verbreitete? Im letzten
       Kapitel vom „Herr der Ringe“, in den schwersten Momenten der Belagerung
       Gondors, sagt Gandalf zu Pippin: „Es gab nie viel Hoffnung, nur ein Narr
       konnte hoffen.“ Vielleicht ist das genau, was wir jetzt brauchen. Die
       Hoffnung der Narren.
       
       Aus dem Hebräischen von Susanne Knaul
       
       23 May 2021
       
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