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       # taz.de -- Politik und Unterwelt in der Türkei: Mafiaboss packt aus
       
       > Sedat Peker fühlt sich von seinen politischen Protegés verraten. Jetzt
       > veröffentlicht er Videos mit Vorwürfen, die Ankara unter Druck setzen.
       
   IMG Bild: Sedat Peker beim Verlassen des Silivri-Gefängnisses im März 2014
       
       Istanbul taz | Der Mann sitzt an einem großen Schreibtisch. Er spricht in
       eine Videokamera, gestikuliert wild, wird laut, dann wieder ganz
       konzentriert. Hinter ihm steht ein Clipboard, auf das er ein Schema
       aufgemalt hat, das mit Pfeilen etwa auf Iran und auf Syrien zeigt. Der wild
       gestikulierende Mann ist einer der bekanntesten Mafiabosse der Türkei,
       Sedat Peker. Sein Video, das er am Sonntag unter anderem auf Youtube
       hochlud, wurde dort über 10 Millionen Mal aufgerufen.
       
       Es ist eine virtuelle Bombe, mit der er das Beziehungsgeflecht zwischen
       Staat und Unterwelt hochgehen lassen will. Denn Sedat Peker ist zornig. Er
       fühlt sich von seinen vormaligen Protegés in der Regierung, allen voran
       Innenminister Süleyman Soylu, verraten. Dafür rächt er sich nun. Seine
       Vorwürfe gehen von politischen Morden und Drogenschmuggel über Verbindungen
       zum organisierten Verbrechen bis zu Vergewaltigung.
       
       Seit mehr als 30 Jahren ist Sedat Peker im Geschäft, wurde mehrmals
       verurteilt, unter anderem wegen Mord, kam aber immer relativ schnell wieder
       aus dem Gefängnis. Er gerierte sich vor allem nach dem Putschversuch 2016
       [1][als unerschütterlicher Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdoğan]. Er
       werde „im Blut der Feinde Erdoğans baden“, verkündete er damals.
       
       Nach eigenen Angaben half er Innenminister Soylu bei dessen Aufstieg in der
       Politik. Im Gegenzug soll Soylu seine Unternehmungen gedeckt haben. Als es
       für Peker im Frühjahr 2020 mal wieder eng wurde, riet Soylu ihm, für ein
       Jahr ins Ausland zu gehen, dann könne er zurückkommen. Sagt Peker. Doch es
       kam ganz anders. Im April veranlasste der Innenminister eine Großrazzia
       gegen seine Organisation, ließ etliche Männer auf Pekers Gehaltsliste
       verhaften und überdies um fünf Uhr früh Pekers Villa in Istanbul
       durchsuchen und dabei seine Frau und Kinder bedrohen. Peker sorgte dafür,
       dass seine Familie zu ihm ins Ausland kam – er befindet sich mutmaßlich in
       Dubai –, und legte dann los. Das Video von Sonntag war das siebte in drei
       Wochen, und alle Videos hatten es in sich.
       
       Er greift dabei nicht nur Soylu als Verbindungsmann zur Mafia an, sondern
       auch Soylus politischen Ziehvater Mehmet Ağar, selbst früherer
       Innenminister und ehemaliger Polizeichef. Er beschuldigt Ağar als Spinne im
       Netz eines Drogenschmugglerrings, in dem Mafiosi und Politiker
       zusammenarbeiten. Eine der führenden Figuren in diesem Netz soll demnach
       Erkan Yıldırım sein, der Sohn des früheren Ministerpräsidenten und engstem
       Freund von Präsident Erdoğan, Binali Yıldırım.
       
       Peker gibt an, dass Erkan Yıldırım im Januar und Februar dieses Jahres in
       Venezuela war, um Drogentransporte, die zuvor über Kolumbien gingen, neu zu
       organisieren, nachdem die USA die Kolumbien-Connection zerschlagen hatten.
       Peker gibt so viele Details bekannt, dass Binali Yıldırım sich genötigt
       sah, Stellung zu nehmen. Er behauptet, dass sein Sohn nur in Venezuela war,
       um Tests und Schutzmasken gegen Corona zu verteilen. In den sozialen Medien
       erntet er dafür Hohn.
       
       Auch Mehmet Ağars Sohn geriet ins Fadenkreuz. Tolga Ağar, ein
       AKP-Parlamentsabgeordneter, soll eine Frau ermordet haben, die ihn zuvor
       der Vergewaltigung beschuldigt hatte. Nach offizieller Version hat die Frau
       Selbstmord begangen.
       
       Am Sonntag tischte Peker dann noch auf, dass mehrere nie aufgeklärte Morde
       an kurdischen Geschäftsleuten in den 90er Jahren, darunter der Mann der
       heutigen HDP-Chefin Pervin Buldan und der Investigativjournalist Uğur
       Mumcu, auf das Konto von Ağar gegangen sein sollen. Beide Witwen fordern
       jetzt neue Untersuchungen.
       
       ## Peker hat weitere Videos angekündigt
       
       Mehrere Wochen hat die Regierung versucht, die Anschuldigungen einfach
       totzuschweigen. Das Fernsehen durfte nicht berichten, die regierungsnahen
       Zeitungen auch nicht. Trotzdem spricht die ganze Türkei über nichts
       anderes. Die Opposition fordert die Regierung auf, Stellung zu nehmen.
       CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu spricht süffisant von der Koalition aus AKP,
       der ultranationalistischen MHP und der Mafia. Angeblich würde Erdoğan
       seinen Innenminister Süleyman Soylu gerne opfern, doch seine Partner bei
       der rechtsradikalen MHP schützen Soylu.
       
       Mit der Wirtschaftskrise und [2][dem Ärger über die Coronapolitik] braut
       sich für Erdoğans AKP etwas zusammen, das sich leicht in einem politischen
       Sturm entladen könnte. Und Sedat Peker hat weitere Videos angekündigt.
       Nachdem am Sonntag sein Bruder Atilla Peker, quasi als Geisel, verhaftet
       wurde, wird er wohl erst recht zulangen.
       
       25 May 2021
       
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