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       # taz.de -- „Goliath96“ in der ARD: Sprich mit ihr
       
       > Die ARD zeigt wieder das „FilmDebüt im Ersten“. In einem der Filme spielt
       > Katja Riemann groß auf – als Mutter, deren Sohn sich abkapselt.
       
   IMG Bild: Sein Zimmer verlässt Sohn David (Nils Rovira-Munoz) nur, um eine Salamipizza in den Ofen zu schieben
       
       Die Sache mit dem Augenblick, der verweilen möge, er sei so schön: Sie
       liegt im Sand, vor sich das Meer, hinter sich die Dünen, über sich der
       blaue Himmel und ein roter Drache, gelenkt vom Vater mit dem Sohne, sie
       lachen. Ihre Hand greift in den Sand, ihr Gesichtsausdruck: maximal
       mögliche Glückseligkeit. So wird es nie wieder sein.
       
       Im Film kann man einen Mann einfach links aus dem Bild gehen lassen. Im
       wirklichen Leben kommt es vor, dass Menschen einfach weggehen, als würden
       sie aus einem Bild gehen. Ohne Erklärung, ohne erkennbaren Grund. Sie gehen
       „Zigaretten holen“ und tauchen dann nie wieder auf. Sie sind vielleicht
       einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Vielleicht sind sie aber auch wirklich
       einfach weggegangen.
       
       Ein anderes Phänomen sind Menschen, meistens Männer, die sich freiwillig in
       ihrer Wohnung oder einem Zimmer, typischerweise dem Jugendzimmer im
       Elternhaus, einschließen und den physischen Kontakt mit anderen auf ein
       Minimum beschränken. Es gibt sogar einen Begriff dafür, er kommt aus Japan,
       wo es mehr als eine Million solcher Menschen geben soll: Hikikomori.
       
       „Es gibt nichts, das so schlimm ist, als dass nicht auch etwas Gutes daran
       wäre.“ Es gibt nichts Schlimmeres als Kalendersprüche. Noch dazu, wenn sie
       einem von der Kollegin und besten Freundin auf den Schreibtisch gelegt
       werden: „Na. Hast du den Spruch gefunden? Da musste ich heute Morgen gleich
       an dich denken.“
       
       ## Hinter verschlossener Zimmertür
       
       Auch die beiden Schauspielerinnen kennen sich lange: 1997 waren sie
       Band-Kolleginnen in Katja von Garniers „Bandits“. Jasmin Tabatabai gibt die
       Freundin, eine Nebenrolle – [1][Katja Riemann] die Frau, die in der
       Anfangsszene so glücklich im Sand lag: in dem Augenblick, bevor der Mann
       weggegangen ist und sie und ihren Sohn zurückgelassen hat.
       
       Der ist inzwischen herangewachsen, studiert aber nicht, wie sie allen, auch
       der besten Freundin, erzählt hat, in Texas, sondern hockt fusselbärtig in
       seinem selbstgewählten Zimmerverlies wie der Graf von Monte Christo im
       Château d’If. Er verlässt es nur, um sich nachts eine Salamipizza aus dem
       Tiefkühlfach zu holen. Eine versehentliche Begegnung mit der Mutter kommt
       einer Katastrophe gleich: „Es sind zwei Jahre, David. Es sind jetzt zwei
       Jahre! – Sprich doch mit mir. Bitte!“, fleht sie ihn an, durch die
       verschlossene Zimmertür. Ihren Banker-Beruf kann sie nicht länger ausüben,
       weil sie seinetwegen nicht umziehen kann.
       
       In den 1990ern war die Riemann eines der Gesichter des im Rückblick nur
       mehr schwer zu begreifenden Deutsche-Filmkomödien-Booms jener Jahre.
       Zuletzt spielte sie zweimal für den unabhängigsten Autorenfilmer des
       Landes, Oskar Roehler. Und selbst in einem dieser notorischen und also im
       Übrigen furchtbaren „TV-Event-Dreiteiler“ („Unsere wunderbaren Jahre“) war
       ihre Vorstellung im vergangenen Jahr die einzig denkwürdige: als verhärmte,
       verschlossene Nachkriegswitwe, einbeinig, mit Prothese und Gehstock. Je
       älter sie wird, desto weniger schont sie sich, könnte man meinen.
       
       ## Falsches Profil
       
       Der Film „Goliath96“ von Marcus Richardt – der zweite in der diesjährigen
       eingeläuteten Runde des „FilmDebüts im Ersten“, wäre ein weiterer Beleg für
       die These. Nicht nur in Sachen Sex wird es hier explizit. Vor allem in der
       Darstellung der Verzweiflung, Einsamkeit, Hoffnung und Überforderung einer
       Frau spielt die Riemann ganz groß auf.
       
       Verzweiflung und Einsamkeit: weil – siehe oben. Hoffnung, weil sie dann
       tatsächlich einen Weg findet, mit ihrem Sohn David (Nils Rovira-Munoz), der
       im Internet als goliath96 unterwegs ist, in Kontakt zu treten. Als
       cinderella97 holt sie sich von ihm in einem Drachenbauer-Forum, in dem sie
       ihn aufgespürt hat, Rat zu Waagenschenkeln und Windbremsen. Bald wird es
       intimer. Irgendwann will er von ihr wissen: „wie siehst du eigentlich aus?“
       Fordert er sie auf: „schick doch maln foto“. Gesteht er ihr: „ich habe mich
       in dich …“
       
       Womit Katja Riemann bei der Überforderung angelangt wäre. Bei der
       Überforderung ihrer Rollenfigur, nicht etwa der mit ihrer Rolle, in der
       sie, wie gesagt, groß aufspielt, in den vielen Chat-Szenen allein mit dem
       Mittel der Mimik. Und dieses Filmdebüt damit zu einem – in der ARD:
       nachmitternächtlichen – Ereignis macht.
       
       26 May 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Katja-Riemann-ueber-Aktivismus/!5510892
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Müller
       
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