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       # taz.de -- Buch über Suizide bei Architekten: Scheitern aus vollem Herzen
       
       > Charlotte Van den Broeck erzählt in „Wagnisse“ das Leben von 13
       > Architekten, die mutmaßlich Suizid begingen. Und verknüpft das mit ihrer
       > eigenen Geschichte.
       
   IMG Bild: Kuppel in der San Carlo alle Quattro Fontane von Francesco Boromini in Rom
       
       Harry Crandall’s Knickerbocker Theater, ein Lichtspielhaus aus der frühen
       Boomzeit des Kinos, war bei seinem Einsturz gerade fünf Jahre alt. Ein
       Blizzard hatte seit der Nacht zum 28. Januar 1922 über Washington, D. C.,
       gewütet, die US-amerikanische Hauptstadt war dick verschneit. So dick, dass
       am Abend das Dach des Kinos zusammenbrach und mehrere Hundert Besucher
       unter sich begrub.
       
       98 Menschen starben, 133 wurden schwer verletzt. Architekt Reginald Geare,
       der in einem anschließenden Prozess für schuldig befunden wurde, hatte sich
       unter dem Zeitdruck seines Bauherrn bei der Konstruktion des Dachs
       verrechnet – beziehungsweise nicht mit solchen Schneemassen gerechnet. Fünf
       Jahre später drehte er in seinem Arbeitszimmer den Gashahn auf und
       erstickte.
       
       Dass Reginald Geare das Unglück und die darauffolgende Krise – er bekam als
       Architekt keine Aufträge mehr – nicht verwinden konnte, ist
       nachvollziehbar. Warum aber stürzte sich Jean Porc 1611 vom Dachstuhl der
       von ihm erbauten Kirche Saint-Omer – etwa wegen ihres verdrehten und
       obendrein leicht gekrümmten Kirchturms?
       
       Warum erhängte sich Eduard van der Nüll, gemeinsam mit August Sicard von
       Sicardsburg während der Bauzeit angefeindeter Architekt der Wiener
       Staatsoper, ein Jahr vor deren gefeierter Eröffnung 1869, und warum starb
       Partner Sicard nur zehn Wochen später? Wieso wählte Stefano Ittar, Spross
       eines in die Ukraine verbannten Italieners, den Freitod, sechs Jahre vor
       der Vollendung seines Meisterstücks, der makellosen maltesischen
       Nationalbibliothek von Valletta?
       
       ## Weder Fiktion noch Sachbuch
       
       Charlotte Van den Broecks erster Prosaband „Wagnisse“ ist weder Fiktion
       noch Sachbuch, sondern ein in seinen großen Linien aufregender, im Detail
       überaus anregender Essay über Kunst und Scheitern, der sich aus einer
       Unzahl von Perspektiven betrachten lässt.
       
       Die 1991 geborene Schriftstellerin aus der belgischen Kleinstadt Turnhout,
       bisher vor allem als Lyrikerin erfolgreich, philosophiert nicht im
       luftleeren Raum, sondern folgt einer konzeptionellen Verengung des Themas:
       Sie reist zu den Bauwerken von 13 [1][Architekten], die mutmaßlich Suizid
       begangen haben, rekonstruiert deren Leben, Werk und Todesmotiv.
       
       Und sie lässt sich bei dieser Arbeit stets über die Schulter schauen,
       schildert Begegnungen mit Expert*innen, folgt assoziativen Nebenwegen und
       reflektiert ihr Selbstverständnis als Künstlerin: Indem sie über sich, ihre
       eigenen Beziehungs- und Arbeitskrisen schreibt, spiegelt sie ihr eigenes
       Leben in den Baumeistern. Eine gewagte, mehrdimensionale, womöglich
       überladene Konstruktion. Ist sie, womöglich absichtlich, vom Scheitern
       bedroht?
       
       Schon das erste Kapitel über das in den nuller Jahren erbaute Städtische
       Schwimmbad Stadspark in Turnhout überrascht mit kühnen Schnitten: Es
       beginnt mit einem minutiös geschilderten Unfall. Der Pferdeschwanz eines
       Teenagers wird in die Filteranlage am Beckenrand gesaugt, mit etwas Pech
       hätte das Mädchen ertrinken können.
       
       ## Eigene Erinnerungen, fremde Biografien und Schauplätze
       
       Überhaupt ist die sechsjährige Geschichte des Gebäudes eine einzige Kette
       von Desastern, die letztlich alle darauf zurückgehen, dass das Bad auf
       schlammigem Grund errichtet wurde. Der anonym gebliebene Architekt, heißt
       es in den Kneipen von Turnhout, habe sich im Heizungskeller umgebracht.
       
       Doch Charlotte Van den Broeck schweift ab in eigene Erinnerungen an
       erwachende Sexualität und Knutschen am Beckenrand, an den mitempfundenen
       Schmerz, als ihr kleiner Bruder ein butterkeksgroßes Hautstück auf der
       Wasserrutsche verliert, an einen Todesfall in der Cafeteria.
       
       Assoziiert Poolgemälde von David Hockney, vielleicht nur, um von einer
       Ausstellung im Centre Pompidou zu erzählen, in dem sie auch seine
       Videoinstallation „Four Seasons“ sieht und bei „Woldgate Woods, Winter“ ein
       ästhetisches Schlüsselerlebnis hat. Wesentliche Leitmotive sind da schon in
       aller Beiläufigkeit und Dichte ausgelegt: die Angst, zu ertrinken, Tod und
       Eros, Weiß als Symbol für Auslöschung.
       
       Das Prinzip der Parallelführung von eigener Geschichte, fremden Biografien
       und Schauplätzen variiert Charlotte Van den Broeck in den folgenden
       Kapiteln immer wieder neu. Im Vordergrund stehen die Rekonstruktionen von
       Baugeschichten sowie den mutmaßlichen (und oft auch belegbaren)
       Charakterzügen ihrer Schöpfer.
       
       ## Gegenwart als skurril-komischer Kontrast zur Geschichte
       
       [2][Sei es die römische Barockkirche] San Carlo alle Quattro Fontane, die
       der jähzornige Perfektionist Francesco Borromini in Konkurrenz zu seinem
       Leib- und Magenfeind Gian Lorenzo Bernini in voluptuöser Pracht entwirft –
       sei es das exzentrische Postamt von Ostende, um dessen Finanzierung sich
       300 Jahre später der sture Gaston Eysselinck mit dem Stadtrat streitet. Das
       Leben nimmt er sich aber aus ganz anderen Gründen, kurz nach dem Krebstod
       seiner Gefährtin Georgette.
       
       Oft dient die Gegenwart der Autorin als skurril-komischer Kontrast zu den
       tragischen Geschicken, etwa, wenn sie sich mit der Vorsitzenden der
       Association des clochers tors d’europe (Europäische Gesellschaft verdrehter
       Kirchtürme) trifft oder in Ostende von gleich drei Männern namens Koen
       beraten lässt.
       
       Mancherorts gibt es überhaupt nichts zu sehen, wie am Zaun des Golfclubs
       Pine Valley in den fast unmöglich zu bepflanzenden Sandböden New Jerseys,
       zu dem Frauen keinen Zutritt haben, oder in Washington, wo längst eine
       schnöde Bankfiliale das Knickerbocker Theater ersetzt.
       
       Auch formal sucht Van den Broeck den Belastungswechsel. Dass Karl Pihal
       vergaß, in der von ihm konzipierten Rossauer Kaserne am Wiener Donaukanal
       die Toiletten einzuplanen, berichtet sie ihrem Freund Walter (Wouter) in
       einem intimen Brief, an dem vor allem irritiert, dass jegliche Intimität
       fehlt.
       
       ## Perfektionistischer Selbstanspruch und Hochmut
       
       Die nächste Reise, erfährt man im folgenden Kapitel, wollten die beiden
       eigentlich gemeinsam machen. Doch dann stapft die Dichterin
       mutterseelenallein über das sommerheiße Fort George im schottischen
       Ardersier: „Die Reise, die unsere Beziehung retten sollte, hatte ich als
       trojanisches Pferd benutzt, um noch einen tragischen Architekten in unser
       Leben zu schmuggeln. Walter war so mutig, auf der Stelle abzusagen.“
       
       Immer wieder stellt sie ihr Schreiben in Frage („Beides geht nicht,
       schreiben und ein richtiges Leben führen, etwas davon muss hinten
       runterfallen“), kämpft mit perfektionistischem Selbstanspruch und dessen
       Umschlag in Hochmut: „Die Architekten riskieren wenigstens große Gesten,
       Wagnisse, Arbeiten in riesigem Maßstab, in aller Öffentlichkeit: konkrete
       Masse und Oberfläche, die eine Reaktion erzwingen und jede Unbeteiligtheit
       verwehren.“
       
       Und doch spielt Van den Broeck die private Karte nie auf Kosten des
       Porträtierten aus. Es sind ihre Augen, durch die wir schauen, es ist unsere
       Gegenwart, in der sich die Vergangenheit spiegelt, doch erstaunlicherweise
       hält der Arbeitsprozess einer Lyrikerin im 21. Jahrhundert den fehlbaren
       Geniekünstlern der Vergangenheit beharrlich stand.
       
       Überhaupt balanciert sie die Abwesenheit von Architektinnen aus, die auch
       Karen beklagt, ihre Führerin durch die Kelvingrove Art Gallery and Museum
       in Glasgow. Hier nutzt Van den Broeck die Gelegenheit, um anhand der
       Ehefrauen der „Glasgow Boys“, den Jugendstilkünstlerinnen Margaret und
       Frances MacDonald, diese Einseitigkeit zu reflektieren. Sad Fact: Auch
       Frances MacDonald beging Selbstmord, ihr eifersüchtiger Gatte vernichtete
       einen Großteil ihres Werks. 
       
       ## „Wagnisse“ im alten Europa
       
       Während sich drei Viertel der „Wagnisse“ im alten Europa vollziehen, bricht
       das letzte in die neue Welt auf. Hier scheint der Dichterin erstmals ein
       wenig die Luft auszugehen, die Begeisterung in Ernüchterung umzuschlagen.
       
       Ein elitärer Golfplatz, ein kommerzielles Kino, der private Skulpturenpark
       des Outsider Artist Starr Gideon Kempf in Colorado Springs – das sind die
       letzten Stationen, die Van den Broeck aufsucht und zum Anlass nimmt, den
       hier streng individualistisch gedachten Gedanken vom Scheitern als Chance,
       vom totalen Neuanfang als Nationalcharakter buchstäblich ad absurdum und an
       ein abruptes Ende zu führen.
       
       Bei einer Führung von Kemps Enkel Josh in den Keller des großväterlichen
       Hauses imaginiert Charlotte Van den Broeck eine Flut, die alles Gerät und
       sie selbst hinaus auf die Straße spült. Hier schließt sich der Kreis, krumm
       und wacklig: Es ist, ganz klar, ein Scheitern aus vollem Herzen.
       
       25 May 2021
       
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       ## AUTOREN
       
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