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       # taz.de -- Indischer Musikerfilm „Der Schüler“: Verehrung und Entbehrung
       
       > Tradition macht nicht unbedingt glücklich. Zumal, wenn die Gegenwart mit
       > den Schultern zuckt. Davon erzählt Chaitanya Tamhanes Film „Der Schüler“.
       
   IMG Bild: Sharad Nerulkar (Aditya Modak) ist der Lernende, der nicht ans Ziel kommt
       
       Es war das Bild des Festivals: ein Mann bei Nacht auf seinem Motorrad, in
       Zeitlupe gefilmt. Dazu der Drone eines indischen Ragas, der die Bewegung
       zusätzlich zu dehnen scheint. Wenn von den [1][Filmfestspielen von Venedig
       im vergangenen Jahr eine Szene im Gedächtnis geblieben] ist, dann diese.
       Ein stilles und starkes Bild, in dem Ausdauer, Streben und Vergeblichkeit
       zusammenfließen.
       
       Die nächtlichen Fahrten dieses Mannes, Sharad, sind eines der
       wiederkehrenden Motive in [2][Chaitanya Tamhanes Spielfilm „Der Schüler“].
       Genauso wie der Drone dazu, der große Teile des Films grundiert: Er ist
       schon zu hören, bevor das erste Bild zu sehen ist. Tamhane erzählt von
       einem Musiker, der versucht, in der klassischen indischen Musik die höchste
       Vollendung zu erreichen. Ein steiniger Weg, wie bald deutlich wird.
       
       Sharad ist Schüler des ehrfurchtgebietenden „Guruji“, eines alten Meisters
       der klassischen indischen Gesangskunst. Dessen Fähigkeiten, in minimalen
       Abweichungen ein und denselben Grundton zu umkreisen, sind gleich in der
       Anfangsszene bei einem Konzert vor kleinerem Publikum zu bewundern. Dann
       folgt ein Schnitt zu Sharad, die Sitar am Arm, wie er in der ärmlichen
       Wohnung des Guruji in Mumbai eine Gesangsstunde absolviert. Verunsichert
       sitzt er vor seinem Meister, den Blick voll Bewunderung für sein Vorbild.
       
       Der Film hat so in den ersten Minuten schon den Konflikt seiner Geschichte
       offengelegt: Sharad ist ein gelehriger, eifriger Schüler, der so verbissen
       nach Meisterschaft in seiner Kunst strebt, dass er sich selbst darüber zum
       Hindernis wird. Seinen Meister verehrt er wie ein gottgleiches Wesen.
       Sharad nimmt regelmäßig an Wettbewerben teil, bei denen stets andere die
       von ihm begehrten Preise gewinnen. Ans Aufgeben denkt er nicht, doch helfen
       ihm die persönlichen Rückschläge ebenso wenig, die Sache etwas lockerer
       anzugehen.
       
       Sharad, erfährt man in dazwischengeschnittenen Rückblenden, ist nicht ganz
       aus freien Stücken zur Musik gekommen. Sein Vater war genauso klassischer
       Musiker, hat dem Sohn täglich Unterricht gegeben, da mochten die Cousins
       noch so sehr drängeln, dass Sharad endlich zum Cricketspielen rauskommen
       darf. In Sachen Musik ist der Vater ihm ständiges Über-Ich gewesen. Jetzt
       übernimmt diese Aufgabe der Guruji.
       
       ## Heimlich aufgezeichnete Aufnahmen
       
       „Der Schüler“ beginnt im Jahr 2006, da ist Sharad Mitte zwanzig. Er
       arbeitet für ein Label, das klassische indische Musik von weniger bekannten
       Künstlern zugänglich macht. Zu seinen Aufgaben gehört, alte Kassetten und
       Schallplatten zu digitalisieren, die dann als CD-Editionen herausgebracht
       werden. Viel Geld verdient er damit nicht.
       
       Auch von der Musik, der er sich verschrieben hat, ist kein finanzieller
       Erfolg zu erwarten. Das ist eine der Lektionen, die er sich auf seinen
       einsamen Motorradfahrten über Kopfhörer erteilen lässt. Sie stammen von
       Maai, seinerzeit Lehrerin seines Guruji. Die Aufnahmen wiederum sind eine
       Hinterlassenschaft von Sharads Vater, eine absolute Rarität, heimlich von
       einem Schüler aufgezeichnet, da sich Maai angeblich nie aufnehmen ließ.
       Eine brüchige Frauenstimme, sie gehört zur im April verstorbenen
       Filmregisseurin Sumitra Bhave, spricht darauf von Musik als einer „ewigen
       Suche“, die Entbehrung und Askese verlangt. Für Menschen mit Ambitionen auf
       Komfort und eine Familie sei dieser Weg nicht geeignet.
       
       Sharad lebt, obwohl erwachsen, bei der Großmutter. Diese lässt ihn wissen,
       dass er für sie mit seinem Lebensstil eine finanzielle Belastung ist. Was
       ihn von seinem Kurs nicht abbringen kann. Mit der Askese hält er es
       unterschiedlich, hin und wieder sieht man ihn beim Masturbieren vor dem PC,
       aus dem eine Frauenstimme stöhnt. Eine Freundin hat er nicht, auch wenn er
       sich schüchtern für eine Mitschülerin interessiert.
       
       ## Existentielle Fragen
       
       Tamhane hat eine denkbar unspektakuläre Hauptfigur für seinen ruhig
       fließenden Film über existenzielle Fragen gewählt. Dennoch fasziniert es,
       diesem bei seinem unermüdlichen Kampf zuzusehen. Das Publikum ahnt
       wohlgemerkt, dass es bei Sharad auf kein typisches Happy End hinausläuft,
       in dem die lange, schwierige Suche schließlich zum ersehnten Ziel führt.
       Vielmehr ist Sharad jemand, der nicht bloß übermäßig verbissen ist, sondern
       auch noch mäßig talentiert.
       
       Während seine Mitschüler, die ihren Beruf und die hohe Kunst mühelos
       miteinander vereinbaren können, Sharad stets gut zureden, zeigt Tamhane mit
       jedem neuen Auftritt Sharads, wie dieser in seiner Kreativität nachlässt,
       sich mit Selbstzweifeln und Verbohrtheit in eine Sackgasse hineinsingt.
       Womöglich war dies keine leichte Aufgabe für den Hauptdarsteller Aditya
       Modak, der selbst klassisch ausgebildeter Sänger ist – wie auch Arun
       Dravid, der den sanft strengen Guruji gibt.
       
       Den Fall Sharads nutzt Tamhane zunächst für eine Reflexion über die
       Bedeutung von „wahrer“ Kunst und dem „richtigen“ Weg, sie zu erlangen. Und
       er deutet an, dass einige der Legenden über die Idole Sharads nicht
       unbedingt der Wahrheit entsprechen müssen, dass deren vermeintliche Stärken
       vereinzelt sogar dazu gedient haben könnten, bestimmte Schwächen zu
       überdecken.
       
       Zugleich verdeutlicht „Der Schüler“, was für seltsame Blüten falsch
       verstandene Traditionspflege treiben kann. Schließlich verfügt nicht
       jeder, der etwas bewahren möchte, über die dazu erforderlichen Gaben oder
       Mittel. Sharad ist, wie sein Vater vor ihm, überzeugt, die hohe Kunst
       ausgerechnet mit der eigenen Stimme am Leben halten zu müssen. Und er
       glaubt fest an den Preis, der dafür zahlen ist. Wenn er keinen Erfolg hat,
       liegt das vor allem daran, dass die Zeitgenossen keinen Respekt mehr vor
       dieser Musik haben.
       
       ## Schreckgespenst Popmusik
       
       Tamhane verdichtet diesen Wandel in einer Nebenfigur: eine schüchterne
       junge Frau vom Land, die mit ihrem traditionellen Gesang in einer
       Talentshow entdeckt wird. Als Sharad ihre Stimme im Fernsehen hört, ist er
       so elektrisiert wie schockiert. Seine Fassungslosigkeit nimmt
       überproportional zu, als die Sängerin vom Talentshowbetrieb konsequent zu
       einer Popmusikerin in üppiger Kostümierung nach
       Eurovision-Song-Contest-Manier umgerüstet wird und fortan bloß „leichte“
       Musik singt.
       
       Der zunehmenden Verbitterung Sharads, die in den Reaktionen auf seine
       Umwelt sichtbar wird, folgt man gleichwohl gebannt. So hat er mit den
       Jahren eine Stelle in einer Musikschule angenommen, wo er seinen Schülern
       elementaren Gesang beibringt. Statt am PC befriedigt er sich zu Hause
       inzwischen vor einem Laptop. Auch soziale Medien nutzt er, wobei ihm diese
       vor allem die eigene Entfremdung von seinem „Publikum“ spiegeln.
       
       Als die Mutter eines Musikschülers nach der Stunde zu ihm kommt, um zu
       fragen, ob ihr Sohn in einer Fusion-Band, die westliche und traditionelle
       Stile mische, mitsingen dürfe, um an Wettbewerben teilzunehmen, reagiert er
       schroff: Das könne der Schüler gern tun, doch zu ihm in den Unterricht
       brauche er dann nicht zurückzukehren. Für Pop sei die Stimme ja schon gut
       genug.
       
       „Der Schüler“ ist wie [3][„Milestone“ ein Beispiel für das heutige
       indische Kino fernab von Bollywood]. Überdreht und überzeichnet ist hier
       nichts, vielmehr nehmen sich beide Filme Zeit für ihre Protagonisten,
       nehmen soziale Themen genau in den Blick, ohne sie mit großer Geste zu
       dramatisieren. Dass sie jetzt auf Netflix laufen, nachdem sie im
       vergangenen Jahr in Venedig Premiere feierten, ist eine ambivalente Freude.
       Sie überhaupt sehen zu können, ist eine gute Sache, die Leinwand fehlt
       allerdings. Gerade für „Der Schüler“ und seine entrückten Zeitlupenszenen,
       die nach einem geräumigen dunklen Saal verlangen.
       
       Für Sharad deutet Tamhane am Ende einen vorsichtigen Ausweg an. Dazu muss
       er kein Künstler werden und kann trotzdem dazu beitragen, das von ihm
       verehrte kulturelle Erbe zu bewahren. Mit zeitgemäßen Mitteln, und
       vielleicht sogar mit ein bisschen wirtschaftlichem Erfolg.
       
       27 May 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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